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Jerusalem: Die Biographie (German Edition)

Jerusalem: Die Biographie (German Edition)

Titel: Jerusalem: Die Biographie (German Edition)
Autoren: Simon Sebag Montefiore
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Dreh- und Angelpunkt, ja sogar eine tragende Säule der Weltgeschichte ist. In einer Zeit, in der die Macht der Internetmythologie bedeutet, dass sowohl die Hightech-Maus als auch das Krummschwert zu den Waffen desselben fundamentalistischen Arsenals gehören können, ist die Suche nach historischen Tatsachen noch wichtiger, als sie für Ibn Khaldun war.
    Eine Geschichte Jerusalems muss sich mit dem Merkmal der Heiligkeit auseinandersetzen. Die Wendung »Heilige Stadt« wird durchgängig verwendet, um die Ehrfurcht vor ihren heiligen Stätten auszudrücken, in Wirklichkeit bedeutet sie jedoch, dass Jerusalem zum zentralen, irdischen Ort für die Kommunikation zwischen Gott und Mensch geworden ist.
    Außerdem gilt es die Frage zu beantworten: Warum Jerusalem? Der Ort lag abseits der Handelsrouten der Mittelmeerküste, litt unter Wasserknappheit, sengender Sommersonne und kalten Winterwinden und war von unwirtlichen, zerklüfteten Bergen umgeben. Aber die Wahl Jerusalems als Tempelstadt beruhte teils auf einer persönlichen Entscheidung, teils auf einer organischen Entwicklung: Die Heiligkeit des Ortes nahm immer mehr zu, weil er schon so lange als heilig galt. Heiligkeit erfordert nicht nur Spiritualität und Glauben, sondern auch Legitimität und Tradition. Ein radikaler Prophet, der eine neue Vision präsentiert, muss die vorhergehenden Jahrhunderte erklären und seine Offenbarung in der akzeptierten Sprache und Geographie der Heiligkeit – den Prophezeiungen früherer Offenbarungen und den seit langem verehrten heiligen Stätten – rechtfertigen. Nichts macht eine Stätte heiliger als die Konkurrenz mit einer anderen Religion.
    Viele atheistische Besucher fühlen sich von dieser Heiligkeit abgestoßen, weil sie darin den ansteckenden Aberglauben einer Stadt sehen, die von selbstgerechter Bigotterie verseucht ist. Diese Einstellung leugnet jedoch das profunde menschliche Bedürfnis nach Religion, ohne das Jerusalem nicht zu verstehen ist. Religionen müssen vergängliche Freuden und ewige Ängste erklären, die den Menschen vor Rätsel stellen und ihn quälen: Wir müssen eine stärkere Kraft als uns selbst spüren. Wir respektieren den Tod und sehnen uns danach, in ihm einen Sinn zu sehen. Als Begegnungsstätte von Gott und Mensch ist Jerusalem der Ort, an dem diese Fragen in der Apokalypse geklärt werden: am Ende aller Tage, an dem es einen Krieg, einen Kampf zwischen Christ und Antichrist geben wird; an dem die Kaaba von Mekka nach Jerusalem kommen wird; an dem das Jüngste Gericht stattfinden wird, die Toten auferstehen und die Herrschaft des Messias und des himmlischen Königreichs, des Neuen Jerusalem, beginnen wird. Alle drei Abrahamitischen Religionen glauben an die Apokalypse, die Details variieren jedoch je nach Religion und Sekte. Säkularisten mögen das alles für antiquiertes Gerede halten, solche Ideen sind jedoch nur allzu aktuell. In dieser Zeit jüdischen, christlichen und muslimischen Fundamentalismus ist die Apokalypse eine dynamische Triebkraft in der fieberhaften Weltpolitik.
    Der Tod ist unser ständiger Begleiter: Seit langem kommen Pilger nach Jerusalem, um hier zu sterben und in der Nähe des Tempelbergs begraben zu werden, damit sie bereit sind zur Auferstehung in der Apokalypse. Die Stadt ist von Friedhöfen umgeben und auf Grabstätten erbaut. Die Menschen verehren mumifizierte Körperteile Heiliger wie die abgetrennte, geschwärzte rechte Hand Maria Magdalenas, die im Raum des griechisch-orthodoxen Patriarchen in der Grabeskirche ausgestellt ist. Viele Heiligtümer und sogar viele Privathäuser sind um Grabstätten gebaut. Die Finsternis dieser Totenstadt rührt nicht nur von einer Art Nekrophilie her, sondern auch von Nekromantie: Die Toten sind hier nahezu lebendig, während sie auf ihre Auferstehung warten. Der endlose Kampf Jerusalems – Massaker, Chaos, Kriege, Terrorismus, Belagerungen und Katastrophen – hat diesen Ort zu einem Schlachtfeld gemacht. Aldous Huxley bezeichnete die Stadt als Schlachthaus der Religionen, Flaubert als Beinhaus, Melville als Schädel, belagert von Heerscharen von Toten, und Edward Said wusste, dass sein Vater Jerusalem hasste, weil es ihn an Tod erinnerte.
    Die Entwicklung, die dieses Heiligtum des Himmels und der Erde nahm, war nicht immer vom Schicksal bestimmt. Der Funke einer Offenbarung, die ein charismatischer Prophet wie Moses, Jesus oder Mohammed hatte, ließ Religionen entstehen. Tatkraft und Glück eines Kriegsherrn schufen Imperien und
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