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Jerusalem: Die Biographie (German Edition)

Jerusalem: Die Biographie (German Edition)

Titel: Jerusalem: Die Biographie (German Edition)
Autoren: Simon Sebag Montefiore
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hingebungsvolle Studium biblischer Wahrheit häufig ihren Glauben wieder auf diesen Ort. Alle Städte sind Fenster zu fremden Denkweisen, aber Jerusalem ist wie ein durchsichtiger Spiegel, der das Innenleben preisgibt und zugleich die Außenwelt reflektiert. Jede Epoche, ob sie nun von unbedingtem Glauben, selbstgerechtem Aufbau von Imperien, evangelikalen Offenbarungen oder säkularem Nationalismus geprägt war, machte Jerusalem zu ihrem Symbol und ihrem Preis. Aber wie in einem Spiegelkabinett ist auch hier das Spiegelbild immer verzerrt und häufig entstellt.
    Jerusalem hat die Angewohnheit, Eroberer wie auch Besucher zu enttäuschen und zu quälen. Der Gegensatz zwischen der realen und der himmlischen Stadt ist so schmerzlich, dass die psychiatrische Klinik der Stadt alljährlich gut hundert Patienten aufnimmt, die an dem sogenannten Jerusalem-Syndrom leiden: einer Geistesstörung, die sich aus Erwartung, Enttäuschung und Wahn speist. Das Jerusalem-Syndrom gibt es aber auch auf politischer Ebene: Jerusalem trotzt gesundem Menschenverstand, praktischer Politik und Strategie und existiert im Reich heißer Leidenschaften und unbesiegbarer Emotionen, die der Vernunft nicht zugänglich sind.
    Selbst ein Sieg in diesem Kampf um Dominanz und Wahrheit macht die Stadt für andere nur umso heiliger. Je gieriger der jeweilige Besitzer, umso heftiger tobt der Wettbewerb und umso emotionaler ist die Reaktion. Hier herrscht das Gesetz der unbeabsichtigten Folgen.
    Kein anderer Ort weckt einen so ausgeprägten Wunsch nach Alleinbesitz. Doch dieses eifersüchtige Streben entbehrt nicht der Ironie, da die meisten Heiligtümer Jerusalems und die mit ihnen verbundenen Legenden entlehnt oder gestohlen wurden und zuvor anderen Religionen gehörten. Die Vergangenheit der Stadt ist in weiten Teilen imaginär. Praktisch jeder Stein stand einst in dem längst vergessenen Tempel einer anderen Glaubensgemeinschaft, in dem Triumphbogen eines anderen Imperiums. Die meisten, wenn auch nicht alle Eroberungen gingen mit dem Drang einher, den Makel anderer Glaubensrichtungen auszulöschen und sich ihrer Traditionen, Geschichten und Stätten zu bemächtigen. Es gab viel Zerstörung, aber weit öfter zerstörten die Eroberer das Vorhergegangene nicht, sondern führten es einer anderen Verwendung zu und bauten es aus. Wichtige Stätten wie der Tempelberg, die Zitadelle, die Davidsstadt, der Berg Zion und die Grabeskirche weisen keine klar unterscheidbare historische Schichtung auf, sondern ähneln eher einem Palimpsest oder einer Stickerei, deren Seidenfäden so miteinander verflochten sind, dass man sie nicht mehr voneinander trennen kann.
    Die rivalisierenden Besitzansprüche auf die ansteckende Heiligkeit anderer führte dazu, dass manche Heiligtümer nacheinander und schließlich gleichzeitig allen drei Religionen heilig waren; Könige erließen Dekrete dazu, Menschen starben dafür, und dennoch sind sie heute nahezu in Vergessenheit geraten: So war der Berg Zion Ziel fanatischer Verehrung von Juden, Muslimen und Christen, zieht aber heute kaum noch muslimische oder jüdische Pilger an und ist wieder überwiegend ein christliches Heiligtum.
    In Jerusalem spielt die Wahrheit häufig eine geringere Rolle als der Mythos. »Man sollte mich in Jerusalem nicht nach geschichtlichen Fakten fragen«, erklärte der bedeutende palästinensische Historiker Dr. Nazmi al-Jubeh. »Zieht man die Fiktion ab, bleibt nichts übrig.« Die Geschichte ist hier so durchdringend mächtig, dass sie immer wieder entstellt wird: Die Archäologie wird zu einem historischen Machtfaktor, und zuweilen üben Archäologen ebenso viel Macht aus wie Soldaten, die dazu rekrutiert sind, die Vergangenheit der Gegenwart anzupassen. Eine Disziplin, die objektiv und wissenschaftlich sein will, lässt sich dazu nutzen, religiös-ethnische Vorurteile zu rationalisieren und imperiale Ambitionen zu rechtfertigen. Israelis, Palästinensern und den evangelikalen Imperialisten des 19. Jahrhunderts kann man durchweg vorwerfen, sich derselben Ereignisse bemächtigt und ihnen widersprüchliche Deutungen und Fakten zugeschrieben zu haben. Eine Geschichte Jerusalems muss daher sowohl Wahrheit als auch Legenden schildern. Es gibt jedoch Tatsachen, und dieses Buch ist bestrebt, sie zu schildern, so wenig sie der einen oder anderen Seite auch schmecken mögen.

    In diesem Buch möchte ich die Geschichte Jerusalems in ihrem weitesten Sinne für ein breites Publikum beschreiben, für Atheisten und
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