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Jenseits des Bösen

Jenseits des Bösen

Titel: Jenseits des Bösen
Autoren: Clive Barker
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viel zu spät.
    Er glitt mit der Hand in die Tasche und ergriff das Messer.
    Kissoon sah die Bewegung.
    »Du begreifst nichts, oder?« sagte er, und seine Augen schnellten plötzlich hektisch hin und her, als würde er mit größter Geschwindigkeit in der Luft zwischen ihm und Jaffe lesen.
    »Ich begreife mehr, als Sie denken«, sagte Jaffe. »Mir ist klar, daß ich nicht rein genug für Sie bin. Ich bin nicht - wie haben Sie sich ausgedrückt? - entwickelt. Ja, entwickelt.«
    »Ich sagte, du bist ein Affe.«
    »Richtig.«
    »Ich habe den Affen beleidigt.«
    Jaffe umklammerte das Messer fester. Er wollte aufstehen.
    »Wage es nicht«, sagte Kissoon.
    »Es ist, als würde man ein rotes Tuch vor einem Stier wedeln«, sagte Jaffe, dessen Kopf kreiste, so sehr strengte ihn das Aufstehen an, »wenn man ›Wage es nicht‹ zu mir sagt. Ich habe Dinge gesehen... getan...« Er wollte das Messer aus der 35
    Tasche holen. »Ich habe keine Angst vor Ihnen.«
    Kissoons Augen hörten mit den schnellen Lesebewegungen auf und sahen zu der Klinge. Sein Gesicht sah nicht überrascht aus, so wie das von Homer; aber er hatte eindeutig Angst. Der Kitzel des Vergnügens raste durch Jaffe, als er diesen Gesichtsausdruck sah.
    Kissoon stand auf. Er war deutlich kleiner als Jaffe, beinahe untersetzt, und sämtliche Winkel waren leicht schräg, als wären ihm einmal alle Knochen gebrochen und in aller Hast neu zusammengesetzt worden.
    »Sie sollten kein Blut vergießen«, sagte er hastig. »Nicht in einer Schleife. Es gehört zu den Grundregeln des Schleifenspruchs, niemals Blut zu vergießen.«
    »Schwach«, sagte Jaffe und ging um das Feuer herum auf sein Opfer zu.
    »Es ist die Wahrheit«, sagte Kissoon und schenkte Jaffe das seltsamste, falscheste Lächeln. »Es gehört zu meiner Ehre, daß ich niemals lüge.«
    »Ich habe ein Jahr im Schlachthof gearbeitet«, sagte Jaffe.
    »In Omaha, Nebraska. Tor zum Westen. Ich habe ein Jahr lang nur Fleisch zerschnitten. Ich verstehe etwas von dem
    Geschäft.«
    Jetzt hatte Kissoon große Angst. Er war zur Wand der Hütte zurückgewichen und hatte beide Arme ausgestreckt, um sich zu schützen; er sah, fand Jaffe, wie die Heldin eines Stummfilms aus. Seine Augen waren nicht mehr halb offen, sondern groß und feucht. Und auch sein Mund - groß und feucht. Er brachte nicht einmal mehr Drohungen heraus, er stand nur da und schlotterte.
    Jaffe streckte die Arme aus und legte dem Mann die Hand um den Truthahnhals. Er packte fest zu, Finger und Daumen gruben sich in Sehnen. Dann griff er mit der anderen Hand, in der er das stumpfe Messer hielt, an Kissoons linken
    Augenwinkel. Der Atem des alten Mannes roch wie der Furz 36
    eines Kranken. Jaffe wollte ihn nicht einatmen, aber er hatte keine andere Wahl; doch im selben Augenblick, als er das tat, merkte er, daß er angeschmiert worden war. Der Atem war mehr als säuerliche Luft. Er hatte etwas in sich, das aus Kissoons Körper ausgestoßen wurde und sich in seinen
    hineinfraß - oder es zumindest versuchte. Jaffe ließ den dürren Hals los und wich zurück.
    »Wichser!« sagte er und spie und hustete den Atem aus, bevor er ihn übernehmen konnte.
    Kissoon spielte weiterhin den Arglosen.
    »Willst du mich nicht umbringen?« sagte er. »Bin ich begna-digt?«
    Jetzt kam er näher; Jaffe wich zurück.
    »Bleiben Sie weg von mir!« sagte Jaffe.
    »Ich bin nur ein alter Mann!«
    »Ich habe den Atem gespürt!« schrie Jaffe und schlug sich mit der Faust auf die Brust. »Sie versuchen, in mich
    hineinzugelangen!«
    »Nein«, protestierte Kissoon.
    »Verdammt, lügen Sie mich nicht an. Ich habe es gespürt.«
    Er spürte es immer noch. Ein Gewicht in seiner Lunge, wo vorher kein Gewicht gewesen war. Er wich zur Tür zurück, weil er wußte, wenn er blieb, würde ihn der Wichser
    fertigmachen.
    »Geh nicht«, sagte Kissoon. »Mach die Tür nicht auf.«
    »Es gibt andere Wege, die zur ›Kunst‹ führen«, sagte Jaffe.
    »Nein«, sagte Kissoon. »Nur ich. Die anderen sind alle tot.
    Niemand kann dir helfen, außer mir.«
    Er versuchte sein gepreßtes Lächeln und verbeugte den mißgestalteten Körper, aber die Unterwürfigkeit war ebenso Schauspielerei, wie es die Angst gewesen war. Nur Tricks, sein Opfer in der Nähe zu behalten, damit er dessen Fleisch und Blut haben konnte. Jaffe würde kein zweites Mal auf die Nummer hereinfallen. Er versuchte, Kissoons Verführungen 37
    mit Erinnerungen zu verdrängen. Freuden, die er noch einmal erleben würde, wenn er nur
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