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Jenseits des Bösen

Jenseits des Bösen

Titel: Jenseits des Bösen
Autoren: Clive Barker
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Jaffe - in einer Wüste, welche noch kahler als diejenige war, die er hinter sich gelassen hatte. Hier war es früher Morgen. Die Sonne stand noch nicht hoch, erwärmte die Luft aber bereits, der Himmel war makellos klar.
    Nun empfand er Schmerzen und Übelkeit, aber der Sog in 28
    seinem Inneren war unwiderstehlich. Er mußte weiterstolpern, obwohl sein ganzer Körper ein Trümmerfeld war. Später erinnerte er sich, daß er durch eine Stadt gekommen war und einen Turm aus Stahl mitten in der Wüste stehen gesehen hatte.
    Aber erst, als seine Reise zu Ende war, vor einer schlichten Steinhütte, deren Tür sich vor ihm öffnete, als seine letzten Kraftreserven aufgebraucht waren und er über ihre Schwelle fiel.
    29
    III

    Als er zu sich kam, war die Tür geschlossen, aber sein Verstand weit offen. Auf der anderen Seite eines prasselnden Feuers saß ein alter Mann mit leutseligen, etwas albernen Gesichtszügen, denen eines Clowns gleich, der fünfzig Jahre gegrinst und nun damit aufgehört hatte; seine Poren waren groß und fettig, das Haar war lang und grau. Er hatte die Beine über Kreuz. Während Jaffe versuchte, die Energie zum Sprechen aufzubringen, hob der Mann ab und zu eine Gesäßbacke und ließ lautstark einen fahren.
    »Du hast den Weg hierher gefunden«, sagte er nach einer gewissen Zeit. »Ich dachte, du würdest vorher sterben. Viele sind gestorben. Es erfordert große Willenskraft.«
    »Wo bin ich?« brachte Jaffe heraus.
    »Wir sind in einer Schleife. Einer Schleife in der Zeit, die ein paar Minuten umfaßt. Ich habe sie als Zuflucht gefunden.
    Nur hier bin ich sicher.«
    »Wer sind Sie?«
    »Mein Name ist Kissoon.«
    »Gehören Sie zum Schwarm?«
    Das Gesicht jenseits des Feuers drückte Überraschung aus.
    »Du weißt eine Menge.«
    »Nein. Eigentlich nicht. Nur Bruchstücke.«
    »Nur sehr wenige Menschen wissen vom Schwarm.«
    »Ich weiß von einigen«, sagte Jaffe.
    »Tatsächlich?« sagte Kissoon nachdenklich. »Ich wüßte gerne ihre Namen.«
    »Ich besaß Briefe von ihnen...«, sagte Jaffe, verstummte aber, als ihm klar wurde, daß er nicht mehr wußte, wo er sie hatte, diese wertvollen Hinweise, die ihn durch Himmel und Hölle geführt hatten.
    »Briefe von wem?« sagte Kissoon.
    »Von Menschen, die... von der ›Kunst‹ wissen... oder etwas 30
    ahnen. «
    »Wirklich? Und was schreiben sie darüber?«
    Jaffe schüttelte den Kopf. »Ich bin noch nicht
    dahintergekommen«, sagte er. »Aber ich glaube, es existiert ein Meer...«
    »Das existiert«, sagte Kissoon. »Und du wüßtest gerne, wo man es finden kann, wie man dorthin gelangt und wie man Kraft aus ihm schöpft.«
    »Ja. Das wüßte ich gerne.«
    »Und als Gegenleistung für dieses Wissen?« sagte Kissoon.
    »Was hast du zu bieten?«
    »Ich habe nichts.«
    »Laß mich das entscheiden«, sagte Kissoon und wandte den Blick zum Dach der Hütte, als würde er etwas in dem Rauch sehen, der sich dort staute.
    »Okay«, sagte Jaffe. »Was immer ich habe, das Sie haben wollen. Sie können es nehmen.«
    »Klingt fair.«
    »Ich muß es wissen. Ich will die ›Kunst‹ beherrschen.«
    »Natürlich. Natürlich.«
    »Ich habe genug vom Leben«, sagte Jaffe.
    Kissoon sah ihn wieder an.
    »Wirklich? Das bezweifle ich.«
    »Ich möchte... ich möchte...« (Was? dachte er. Was möchtest du?) »Erklärungen«, sagte er.
    »Gut, wo soll ich anfangen?«
    »Mit dem Meer«, sagte Jaffe.
    »Ah, das Meer.«
    »Wo ist es?«
    »Warst du jemals verliebt?« antwortete Kissoon.
    »Ja. Ich glaube schon.«
    »Dann warst du schon zweimal in der Essenz. Zum ersten Mal in der ersten Nacht, in der du außerhalb der Gebärmutter geschlafen hast. Zum zweiten Mal in der Nacht, als du neben 31
    der Frau lagst, die du liebtest. Oder war es ein Mann?« Er lachte. »Wie auch immer.«
    »Essenz ist das Meer.«
    »Essenz ist das Meer. Und in diesem Meer sind Inseln, die Ephemeriden heißen.«
    »Ich möchte dorthin«, hauchte Jaffe.
    »Wirst du. Noch ein einziges Mal.«
    »Wann?«
    »In der letzten Nacht deines Lebens. Mehr wird uns nicht ge-währt. Drei Ausflüge zum Meer der Träume. Weniger, und wir würden verrückt werden. Mehr...«
    »Und?«
    »Und wir wären keine Menschen mehr.«
    »Und die ›Kunst‹?«
    »Ah, ja... da gehen die Meinungen auseinander.«
    »Beherrschen Sie sie?«
    »Beherrschen?«
    »Diese ›Kunst‹. Beherrschen Sie sie? Können Sie sie
    vollbringen? Können Sie sie mir beibringen?«
    »Vielleicht.«
    »Sie sind einer vom Schwarm«, sagte Jaffe. »Sie
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