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Jenseits des Bösen

Jenseits des Bösen

Titel: Jenseits des Bösen
Autoren: Clive Barker
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zur ›Kunst‹ führte.
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    II

    Jaffe hatte ein hausbackenes Leben hinter sich. Er war fünfzig Meilen von Omaha entfernt geboren worden, hatte seine Ausbildung dort erhalten, hatte seine Eltern dort begraben und hatte um zwei Frauen aus dieser Stadt geworben, aber keine war mit ihm vor den Traualtar getreten. Er hatte den
    Bundesstaat ein paarmal verlassen und sogar einmal daran gedacht, nach Orlando zu gehen, wo seine Schwester wohnte, aber sie hatte ihm das ausgeredet und gesagt, er würde nicht mit den Menschen oder der sengenden Sonne klarkommen.
    Und so war er in Omaha geblieben, hatte Jobs verloren und andere bekommen, hatte sich nie für lange etwas oder
    jemandem gewidmet, und deshalb hatte sich auch ihm niemand gewidmet.
    Aber in der einsamen Abgeschiedenheit des Zimmers der Postirrläufer hatte er Horizonte gekostet, von deren Existenz er nie etwas gewußt hatte, und das hatte die Wanderlust in ihm geweckt. Als da draußen nur Sonne, Vororte und Micky Maus gewartet hatten, war es ihm einerlei gewesen. Weshalb sollte er sich die Mühe machen und nach so banalen Dingen suchen?
    Jetzt war er gescheiter. Es gab Geheimnisse zu entschleiern und Mächte beim Schopf zu packen, und wenn er König der Welt war, würde er die Vororte niederreißen - und die Sonne, wenn er konnte - und die Welt in einer heißen Dunkelheit neu erschaffen, in der ein Mann letztlich die Geheimnisse seiner eigenen Seele ergründen konnte.
    Von Kreuzwegen war in den Briefen häufig die Rede gewesen, und diesen Ausdruck hatte er lange Zeit im engsten Sinne des Wortes verstanden und geglaubt, daß Omaha
    möglicherweise an diesen Kreuzwegen lag und er das Wissen um die ›Kunst‹ dort finden würde. Aber als er die Stadt hinter sich gelassen hatte und unterwegs war, wurde ihm der Irrtum dieser Denkweise bewußt. Als die Briefschreiber von
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    Kreuzwegen gesprochen hatten, da hatten sie nicht gemeint, daß sich ein Highway mit dem anderen kreuzte; sie hatten Orte gemeint, wo sich Daseinsformen kreuzten, wo das menschliche System auf das fremde traf und beide sich verändert
    weitererstreckten. Im Strom und Strudel solcher Orte konnte er hoffen, die Offenbarung zu finden.
    Er hatte selbstverständlich kaum Geld, aber irgendwie schien das nicht wichtig zu sein. In den Wochen nach der Flucht vom Schauplatz seines Verbrechens schien ihm alles, was er haben wollte, einfach zuzufallen. Er mußte nur den Daumen hochhal-ten, und ein Auto bremste mit quietschenden Reifen. Wenn ein Autofahrer ihn fragte, wohin er, Jaffe, denn wollte, brachte ihn der Fahrer genau dorthin. Es war, als wäre er gesegnet worden.
    Wenn er stolperte, war stets jemand zur Stelle, der ihn stützte.
    Wenn er hungrig war, gab ihm jemand Nahrung.
    Eine Frau aus Illinois, die ihn mitgenommen und
    anschließend gefragt hatte, ob er die Nacht mit ihr verbringen wollte, bestätigte ihm seinen gesegneten Zustand.
    »Du hast etwas Außergewöhnliches gesehen, nicht wahr?«
    flüsterte sie ihm mitten in der Nacht zu. »Man sieht es in deinen Augen. Nur wegen deiner Augen habe ich dich
    mitgenommen.«
    »Und mir das angeboten?« sagte er und spielte zwischen ihren Beinen.
    »Ja. Auch das«, sagte sie. »Was hast du gesehen?«
    »Nicht genug«, antwortete er.
    »Schläfst du noch einmal mit mir?«
    »Nein.«

    Auf seiner Reise von Bundesstaat zu Bundesstaat erhaschte er von Zeit zu Zeit einen Blick auf das, was ihn die Briefe gelehrt hatten. Er sah Geheimnisse herausragen, die es nur deshalb wagten, sich zu zeigen, weil er auf der Durchreise war und sie in ihm einen kommenden Mann der Macht erkannten. In
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    Kentucky wurde er durch Zufall Zeuge, wie der Leichnam eines Heranwachsenden aus einem Fluß gezogen wurde; der Leichnam lag auf dem Gras, Arme ausgebreitet, Finger
    gespreizt, während eine Frau an seiner Seite heulte und schluchzte. Die Augen des Jungen waren offen, ebenso die Knöpfe seiner Hose. Er beobachtete alles aus kurzer
    Entfernung, der einzige Zeuge, der nicht von der Polizei weggescheucht wurde - wieder die Augen - und genoß es, wie der Junge ausgerichtet war - wie die Gestalt auf dem Medaillon nämlich -, und er wollte sich beinahe selbst in den Fluß stürzen, nur um den Kitzel des Ertrinkens zu erleben.
    In Idaho begegnete er einem Mann, der bei einem Autounfall einen Arm verloren hatte; als sie beisammensaßen und sich unterhielten, sagte er, daß er immer noch Empfindungen in dem verlorenen Glied hatte, was die Ärzte als Phantomschmerz bezeichneten; aber er
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