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Jenseits des Bösen

Jenseits des Bösen

Titel: Jenseits des Bösen
Autoren: Clive Barker
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Blatt, von Zeichen zu Zeichen, und suchte nach etwas, das auch nur entfernte Ähnlichkeit mit dem Medaillon in seiner Hand hatte. Während er das tat, hatte er immer wieder denselben Gedanken: Er wußte, es gab eine Kunst, aber keinen Künstler, eine Praxis, aber keinen Praktizierenden, und daß er vielleicht dieser Mann war.
    Der Gedanke mußte sich nicht besonders anstrengen. Binnen einer Stunde, während der er Briefe durchlas, nahm er in seinem Denken den ersten Rang ein. Das Medaillon war ihm nicht zufällig in die Hände gefallen. Er hatte es als Belohnung für seine geduldigen Studien erhalten und als Hilfsmittel, um die Fäden seiner Ermittlungen zu verknüpfen und allmählich einen Sinn darin zu erkennen. Die meisten Symbole und Skizzen auf den Seiten waren irrelevant, aber es gab viele - zu viele für einen Zufall -, die Ähnlichkeit mit den Symbolen auf dem Kreuz hatten. Es fanden sich aber nie mehr als zwei auf ein und demselben Blatt, und die meisten waren linkisch 16
    gezeichnet, weil keiner der Verfasser die vollständige Lösung in Händen hielt, so wie er; aber sie begriffen alle einen Teil des Puzzles, und ihre Beobachtungen über ihre eigene Rolle, ob in Haiku, obszöner Sprache oder alchimistischen Formeln, halfen ihm, das System hinter den Symbolen besser zu verstehen.
    Ein Ausdruck, der wiederholt in den einfühlsamsten Briefen auftauchte, war der Schwarm. Er hatte ihn einige Male gelesen und nicht weiter darüber nachgedacht. In den Briefen fanden sich zahlreiche biologische Fachausdrücke; er hatte angenommen, daß das Wort dazu gehörte. Jetzt wurde ihm sein Irrtum klar. Der Schwarm war ein Kult oder eine Art Kirche, und deren Symbol war der Gegenstand, den er auf der Handfläche liegen hatte. Es war damit keinesfalls klar, was dieser Gegenstand und die ›Kunst‹ gemeinsam hatten, aber sein lange gehegter Verdacht, daß es sich um ein Geheimnis handelte, um eine Reise, wurde hiermit bestätigt; und er wußte, mit dem Medaillon als Karte würde es ihm schließlich gelingen, den Weg vom Schwarm zur ›Kunst‹ zu finden.
    Derweil hatte er dringendere Sorgen. Wenn er an die Meute seiner Mitarbeiter dachte, an deren Spitze Homer stand, erschauerte er bei dem Gedanken, daß einer von ihnen das Geheimnis teilen könnte, das er entdeckt hatte. Nicht, daß sie eine Chance gehabt hätten, echte Fortschritte beim
    Entschlüsseln zu machen; dazu waren sie zu dumm. Aber Homer war immerhin so argwöhnisch, daß er vielleicht in dieser Richtung herumschnüffelte; und die Vorstellung, daß irgend jemand - ganz besonders aber dieser Kotzbrocken Homer - seinen heiligen Boden entweihte, war unerträglich. Es gab nur einen Weg, diese Katastrophe zu vermeiden. Er mußte rasch handeln und sämtliche Beweise vernichten, die Homer auf die richtige Spur bringen konnten. Das Medaillon würde er selbstverständlich behalten; es war ihm von höheren Mächten, deren Gesichter er dereinst sehen würde, anvertraut worden.
    Außerdem würde er die zwanzig oder dreißig Briefe behalten, 17
    in denen die besten Informationen über den Schwarm standen; der Rest - ungefähr dreihundert - mußte verbrannt werden. Und die Sammlung im Zimmer der Postirrläufer, auch die mußte verbrannt werden. Komplett. Es würde Zeit erfordern, aber es ließ sich nicht vermeiden, je früher, desto besser. Er sortierte die Briefe in seinem Zimmer aus, bündelte die, die er nicht behalten mußte, und ging wieder zurück zum Postamt.
    Es war mittlerweile Spätnachmittag, und er mußte gegen den Strom der Menschen gehen; er betrat das Postamt durch die Hintertür, um Homer nicht in die Arme zu laufen, obwohl er die Gewohnheiten des Mannes hinreichend kannte, um zu vermuten, daß er auf die Sekunde genau um halb sechs die Stechuhr gedrückt hatte und bereits irgendwo ein Bier kippte.
    Der Ofen war eine schwitzende, klappernde Antiquität, die von einer anderen schwitzenden, klappernden Antiquität, namens Miller, mit dem Jaffe kein einziges Wort gewechselt hatte, weil Miller stocktaub war, bedient wurde. Jaffe brauchte eine gewisse Zeit, bis er erklärt hatte, daß er den Ofen eine Weile anheizen würde, angefangen mit dem Päckchen, das er von daheim mitgebracht hatte und das er unverzüglich in die Flammen warf. Dann ging er hinauf ins Zimmer der
    Postirrläufer.
    Homer war kein Bier kippen gegangen. Er wartete; er saß auf Jaffes Stuhl unter einer schmucklosen Glühbirne und ging die Stapel um ihn herum durch.
    »Also, was ist los?« sagte er,
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