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Jenseits des Bösen

Jenseits des Bösen

Titel: Jenseits des Bösen
Autoren: Clive Barker
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Nachrichten von Aposteln von der Venus und
    Hellsehern, die per Fernseher mit den Toten in Verbindung traten. Aber nachdem er diese Briefe mehrere Wochen lang studiert hatte - und studieren war genau der richtige Ausdruck; er war wie ein Mann, der in der endgültigen Bibliothek eingesperrt ist -, sah Jaffe allmählich hinter dem Unsinn die wahren Geschichten. Er knackte den Kode; jedenfalls
    genügend, um gefesselt zu sein. Es erboste ihn nicht mehr, wenn Homer die Tür aufmachte und wieder ein halbes Dutzend Postsäcke hereintragen ließ; er freute sich über das zusätzliche 11
    Material. Je mehr Briefe, desto mehr Hinweise, und je mehr Hinweise er hatte, desto größer war die Hoffnung, daß er das Geheimnis eines Tages ergründen würde. Denn es waren, wie er mit zunehmender Gewißheit einsah, während Wochen zu Monaten wurden und der Winter seinen Abschied nahm, nicht mehrere Geheimnisse, sondern nur ein einziges. Die Briefschreiber, die vom Schleier sprachen und wie man ihn beiseite ziehen konnte, fanden ihren eigenen Weg zur
    Offenbarung; jeder einzelne hatte seine bestimmte Methode oder Metapher. Aber irgendwo inmitten dieser Kakophonie wartete ein einziger Psalm darauf, gesungen zu werden.
    Es ging nicht um Liebe. Jedenfalls nicht so, wie die
    Sentimentalen sie verstanden. Und auch nicht um den Tod, wie ein Realist den Ausdruck verstanden haben würde. Es ging -
    ohne bestimmte Reihenfolge - um Fische und das Meer -
    manchmal das Meer der Meere; um drei Methoden, dort zu schwimmen; um Träume - jede Menge über Träume; um eine Insel, die Plato ›Atlantis‹ genannt hatte, obwohl er wußte, daß es sich um einen völlig anderen Ort handelte. Es ging um das Ende der Welt und damit wiederum um ihren Anfang. Und es ging um Kunst.
    Besser gesagt, die ›Kunst‹.
    Von allen Kodes war das derjenige, über den er sich am meisten den Kopf zerbrach und doch zu keinem Ergebnis kam.
    Von der ›Kunst‹ wurde auf mannigfaltige Weise gesprochen.
    Sie hieß Das letzte große Werk. Oder Die verbotene Frucht.
    Oder Da Vincis Verzweiflung oder Der Pfahl im Fleische oder Totengräbers Wonne. Es gab viele Wege, sie zu beschreiben, aber nur eine ›Kunst‹. Und - das war ein Rätsel - keinen Künstler.
    »Sie sind also glücklich hier?« sagte Homer eines Tages im Mai zu ihm.
    Jaffe sah von seiner Arbeit auf. Rings um ihn herum waren Briefe verstreut. Seine Haut, die nie völlig gesund gewesen 12
    war, war so blaß und geätzt wie die Seiten in seiner Hand.
    »Gewiß«, sagte er zu Homer, machte sich aber kaum die Mühe, von dem Mann Notiz zu nehmen. »Haben Sie noch
    mehr für mich?«
    Homer antwortete zunächst nicht. Dann sagte er: »Was verheimlichen Sie, Jaffe?«
    »Verheimlichen? Ich verheimliche nichts.«
    »Sie verstecken Sachen, die Sie mit uns anderen teilen sollten.«
    »Das tue ich nicht«, sagte Jaffe. Er hatte sich peinlich genau an Homers Erstes Gebot gehalten, daß alles aufgeteilt wurde, was in den Irrläufern zutage kam. Geld, Pornohefte, billiger Schmuck, den er ab und zu fand; alles ging an Homer, der es aufteilte. »Sie bekommen alles«, sagte er. »Ich schwöre es.«
    Homer sah ihn voll unverhohlener Zweifel an. »Sie
    verbringen jede verdammte Stunde des Tages hier unten«, sagte er. »Sie sprechen nicht mit den anderen Jungs. Sie trinken nicht mit ihnen. Können Sie uns nicht riechen, Randolph? Ist das der Grund?« Er wartete nicht auf eine Antwort. »Oder sind Sie nur ein Dieb?«
    »Ich bin kein Dieb«, sagte Jaffe. »Sie können sich selbst überzeugen.« Er stand auf und hob beide Hände, in denen er je einen Brief hielt. »Durchsuchen Sie mich.«
    »Ich will Sie verdammt noch mal nicht anfassen«, lautete Homers Antwort. »Wofür halten Sie mich, eine elende
    Schwuchtel?« Er sah Jaffe unverwandt an. Nach einer Pause sagte er: »Ich lasse jemand anderen hierher versetzen, der Sie ablöst. Sie haben fünf Monate abgesessen. Das reicht. Ich werde Sie versetzen.«
    »Ich will nicht...«
    »Was?«
    »Ich meine... ich wollte nur sagen, mir gefällt es hier unten.
    Wirklich. Meine Arbeit macht mir Spaß.«
    »Ja«, sagte Homer, der eindeutig immer noch argwöhnisch 13
    war. »Ab Montag sind Sie weg vom Fenster.«
    »Warum?«
    »Weil ich es sage! Wenn Ihnen das nicht paßt, können Sie sich einen andern Job suchen.«
    »Ich leiste gute Arbeit, oder etwa nicht?« sagte Jaffe.
    Homer drehte ihm bereits den Rücken zu.
    »Etwas stinkt hier«, sagte er, als er hinausging. »Etwas stinkt wirklich
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