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Jenseits des Bösen

Jenseits des Bösen

Titel: Jenseits des Bösen
Autoren: Clive Barker
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irregeleiteten Post verbrachte, etwas, das er erst Ende der dritten Woche genoß und erst Ende der fünften begriff.
    Er saß am Kreuzweg von Amerika.
    Homer hatte recht gehabt. Omaha, Nebraska, war nicht der geografische Mittelpunkt der USA, aber soweit es die Post betraf, hätte er es durchaus sein können.
    Die Kommunikationslinien kreuzten und überkreuzten sich und warfen schließlich ihre Waisen hier aus, weil niemand in einem anderen Staat sie haben wollte. Diese Briefe waren von einer Küste zur anderen geschickt worden und suchten jemand, der sie aufmachte, aber sie hatten keine Abnehmer gefunden.
    Schließlich landeten sie bei ihm: bei Randolph Ernest Jaffe, einem kahl werdenden Niemand mit unausgesprochenen
    Ambitionen und nicht ausgedrückter Wut, dessen kleines Messer sie aufschlitzte, dessen kleine Augen sie überflogen, und der - da er am Kreuzweg saß - das geheime Antlitz der Nation zu erkennen begann.
    Da waren Liebesbriefe; Haßbriefe; Lösegeldbriefe; Bitt-schreiben; Zettel, auf die Männer den Umriß ihres Ständers gezeichnet hatten; Valentinsgrüße mit Schamhaarlocken, Erpres-9
    serbriefe von Ehefrauen, Journalisten, Huren, Anwälten und Senatoren; Scherzbriefe und Abschiedsbriefe von
    Selbstmördern; verlorengegangene Romane; Kettenbriefe; nicht zugestellte Geschenke; abgelehnte Geschenke; Briefe, die wie Flaschenpost von einer Insel in der Hoffnung losgeschickt worden waren, Hilfe zu finden; Gedichte; Drohungen und Rezepte. So viele. Aber diese Masse war das wenigste. Obwohl er manchmal bei den Liebesbriefen ins Schwitzen kam und er sich bei Lösegeldforderungen fragte, ob die Absender, wenn sie unbeantwortet blieben, ihre Geiseln ermordet hatten, berührten ihn die Geschichten von Liebe und Tod, die sie erzählten, nur am Rande. Weitaus faszinierender, weitaus bewegender war eine andere Geschichte, die nicht so leicht artikuliert werden konnte.
    Da er am Kreuzweg saß, wurde ihm allmählich klar, daß Amerika ein geheimes Leben hatte; ein Leben, das er vorher nicht einmal ansatzweise gesehen hatte. Von Liebe und Tod wußte er. Liebe und Tod waren die großen Klischees; die verschwisterte Besessenheit von Songs und Seifenopern. Aber es gab noch ein anderes Leben, auf das jeder vierzigste oder fünfzigste oder hundertste Brief hinwies und das jeder tausendste mit wahnsinniger Offenheit aussprach. Wenn es offen dastand, war es nicht die Wahrheit, aber es war ein Anfang, und jeder Briefeschreiber hatte seine eigene
    wahnsinnige Art, etwas auszusprechen, das beinahe
    unaussprechlich war.
    Es lief auf folgendes hinaus: Die Welt war nicht so, wie sie zu sein schien. Nicht einmal entfernt so, wie sie zu sein schien.
    Mächte - Regierung, Religion, Medizin - verschworen sich, um zu vertuschen und alle zum Schweigen zu bringen, die diese Tatsache mehr als nur ansatzweise begriffen hatten, aber sie konnten nicht jeden einzelnen knebeln oder verschwinden lassen. Es gab Männer und Frauen, die durch das Netz
    schlüpften, wie weit es auch ausgeworfen wurde; die auf 10
    Nebenstraßen reisten, wo ihre Verfolger sich verirrten, und sichere Unterkünfte unterwegs aufsuchten, wo sie von
    ähnlichen Visionären Speise und Trank bekamen, und die auch die Spürhunde in die Irre leiteten, wenn sie kamen. Diese Leute trauten Ma Bell nicht, daher benützten sie keine Telefone. Sie riskierten es nicht, sich in größeren als Zweiergruppen zu treffen, weil sie keine Aufmerksamkeit auf sich lenken wollten.
    Aber sie schrieben. Manchmal war es, als müßten sie schreiben, als wären alle Geheimnisse, die sie hüteten, so heiß, daß sie sich einen Weg nach draußen brannten. Manchmal weil sie wußten, daß ihnen die Jäger auf den Fersen waren und sie keine andere Möglichkeit hatten, sich selbst die Welt zu beschreiben, bevor sie geschnappt, unter Drogen gesetzt und eingesperrt wurden. Manchmal drückte das Gekritzel eine subver-sive Wonne aus, wenn Briefe absichtlich mit falschen oder unleserlichen Adressen losgeschickt wurden - in der Hoffnung, daß sie einem Unschuldigen, der sie durch Zufall bekam, den Verstand raubten. Einige der Irrläufer waren wirr wie ein innerer Monolog geschrieben, andere waren präzise, mitunter sogar klinische Beschreibungen, wie man die Welt auf den Kopf stellen konnte - durch Sex-Magie oder den Verzehr von Pilzen. Manche benützten die albernen Vergleiche von Artikeln des National Enquirer, um eine andere Botschaft zu verschleiern. Sie sprachen von UFO-Sichtungen und Zombie-Kulturen;
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