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Jenseits des Bösen

Jenseits des Bösen

Titel: Jenseits des Bösen
Autoren: Clive Barker
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sobald Jaffe durch die Tür eingetreten war.
    Es war sinnlos, unschuldig tun zu wollen, das wußte Jaffe.
    Seine monatelangen Studien hatten das Wissen in sein Gesicht eingegraben. Er kam nicht mehr auf die naive Tour durch. Aber das wollte er auch nicht mehr, wenn er darüber nachdachte.
    »Nichts ist los«, sagte er und verlieh der Verachtung, die er für die Kinderei des Mannes empfand, unverhohlen Ausdruck.
    »Ich habe nichts genommen, das Sie haben wollten. Oder 18
    brauchen könnten.«
    »Das werde ich entscheiden, Arschloch«, sagte Homer und warf die Briefe, die er gelesen hatte, zu den anderen auf den Haufen. »Ich will wissen, was Sie hier unten getrieben haben.
    Außer wichsen.«
    Jaffe machte die Tür zu. Es war ihm bisher noch nie
    aufgefallen, aber das Dröhnen des Ofens drang durch die Wände bis in dieses Zimmer. Alles bebte unmerklich. Säcke, Umschläge, die Worte auf den darin gefalteten Seiten. Und der Stuhl, auf dem Homer saß. Und das Messer, das Messer mit der kurzen Schneide, das auf dem Boden neben dem Stuhl lag, auf dem Homer saß. Das gesamte Zimmer bewegte sich ein wenig, als würde der Boden erzittern. Als würde die Welt gleich umgekippt werden.
    Vielleicht wurde sie das. Warum nicht? Es hatte keinen Sinn, so zu tun, als wäre der Status immer noch quo. Er war ein Mann auf dem Weg zum einen oder anderen Thron. Er wußte nicht, zu welchem, und er wußte nicht, wo er sich befand, aber er mußte jeden Konkurrenten schnellstmöglich zum Schweigen bringen. Niemand würde ihn finden. Niemand würde ihm die Schuld geben, über ihn richten, ihn in die Todeszelle sperren.
    Er war jetzt sein eigenes Gesetz.
    »Ich sollte erklären...«, sagte er mit einem beinahe schnippi-schen Tonfall zu Homer, »... worum es wirklich geht.«
    »Ja«, sagte Homer und schürzte die Lippen. »Das sollten Sie tun.«
    »Nun, es ist ganz einfach...«
    Er ging zu Homer und dem Stuhl und dem Messer neben
    dem Stuhl. Seine Schnelligkeit machte Homer nervös, aber er blieb sitzen.
    »... ich habe ein Geheimnis entdeckt«, fuhr Jaffe fort.
    »Hm?«
    »Möchten Sie wissen, was für eins?«
    Jetzt stand Homer auf, und sein Blick zitterte wie alles 19
    andere ringsum. Alles, außer Jaffe. Das Zittern war aus seinen Händen, seinen Eingeweiden und seinem Kopf verschwunden.
    Er war stabil inmitten einer instabilen Welt.
    »Ich habe keine Ahnung, was Sie hier treiben«, sagte Homer.
    »Aber es gefällt mir nicht.«
    »Kann ich Ihnen nicht verdenken«, sagte Jaffe. Er sah nicht zu dem Messer. Das mußte er nicht. Er konnte es spüren.
    »Aber es ist doch Ihre Aufgabe«, fuhr Jaffe fort, »zu wissen, was hier unten los ist, oder nicht?«
    Homer entfernte sich ein paar Schritte von dem Stuhl. Dahin war der naßforsche Gang, den er sonst anschlug. Er stolperte, als würde sich der Boden neigen.
    »Ich war im Zentrum der Welt«, sagte Jaffe. »Dieses kleine Zimmer... hier spielt sich alles ab.«
    »Tatsächlich?«
    »Tatsächlich.«
    Homer grinste kurz nervös. Er warf einen Blick zur Tür.
    »Wollen Sie gehen?« fragte Jaffe.
    »Ja.« Er sah auf die Uhr, ohne sie zu sehen. »Muß mich sputen. Bin eigentlich nur heruntergekommen, um...«
    »Sie haben Angst vor mir«, sagte Jaffe. »Und das mit Recht.
    Ich bin nicht mehr der Mann, der ich einmal war.«
    »Tatsächlich?«
    »Sie wiederholen sich.«
    Homer sah wieder zur Tür. Sie war fünf Schritte entfernt; vier, wenn er lief. Er hatte die halbe Strecke zurückgelegt, als Jaffe das Messer aufhob. Er hatte den Türgriff in der Hand, als er hörte, wie der Mann hinter ihm näher kam.
    Er sah sich um, und das Messer zielte direkt auf sein Auge.
    Es war kein zufälliger Hieb. Es war Synchronizität. Das Auge leuchtete, das Messer leuchtete. Das Leuchten verschmolz, und im nächsten Augenblick schrie er, während er gegen die Tür stürzte und Randolph ihm folgte, um den Brieföffner aus dem Kopf des Mannes herauszuziehen.
    20
    Das Dröhnen des Ofens wurde lauter. Da er mit dem Rücken zu den Postsäcken stand, konnte Jaffe spüren, wie sich die Briefcouverts aneinander rieben, wie die Worte auf den Blättern durchgeschüttelt wurden, bis sie vorzüglichste Poesie waren. Blut, sagten sie; wie ein Meer; seine Gedanken wie Klumpen in diesem Meer, dunkel, geronnen, heißer als heiß.
    Er streckte die Hand nach dem Griff des Messers aus und packte ihn. Er hatte in seinem Leben noch kein Blut vergossen, nicht einmal ein Insekt getötet, jedenfalls nicht vorsätzlich.
    Aber jetzt erzeugte seine
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