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Jenseits des Bösen

Jenseits des Bösen

Titel: Jenseits des Bösen
Autoren: Clive Barker
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entdeckt machen. Aber wenn die Veränderung des Beweises, die er und Raul
    durchführten, gründlich genug war, dann würde es - dies war seine feste Überzeugung - niemandem gelingen, die
    Experimente so leicht nachzustellen, die er in der Wüste von Kalifornien durchgeführt hatte. Er und der Junge - es fiel ihm immer noch schwer, Raul als Jungen zu betrachten - mußten wie perfekte Diebe sein, die ihr eigenes Haus plünderten, um 42
    jede Spur ihrer selbst zu vernichten. Wenn sie sämtliche Forschungsunterlagen verbrannt und jegliches Gerät
    zertrümmert hatten, mußte es so sein, als hätte der Nuncio nie existiert. Erst dann konnte er den Jungen, der immer noch emsig die Feuer in der Mission schürte, zum Rand der Klippe führen, damit sie Hand in Hand hinunterspringen konnten. Der Sturz war tief, die Felsen unten so scharfkantig, daß sie keine Überlebenschancen hatten. Die Flut würde ihre Leichen und das Blut in den Pazifik hinausspülen. Und damit würden Feuer und Wasser die Aufgabe vollbracht haben.
    Was natürlich nicht verhindern konnte, daß ein künftiger Forscher den Nuncio von sich aus wiederentdeckte; aber das Zusammenwirken von wissenschaftlichen Disziplinen und Um-ständen, das die Entdeckung ermöglicht hatte, war sehr eigentümlich. Fletcher hoffte für die Menschheit, daß sie viele Jahre lang nicht wieder zusammentreffen würden. Diese Hoffnung war durchaus begründet. Ohne Jaffes seltsames, halb intuitives Wissen um okkulte Prinzipien, die seine eigene
    wissenschaftliche Methodik unterstützten, wäre das Wunder nicht möglich gewesen, und wie oft setzten sich Männer der Wissenschaft schon mit Männern der Magie - den Sprüche-wirkern, wie Jaffe sie genannt hatte - zusammen, um ihre Künste zu vereinen? Es war gut, daß sie das nicht taten. Es gab soviel Gefährliches zu entdecken. Die Anhänger des Okkulten, deren Kodes Jaffe entschlüsselt hatte, wußten mehr über die Welt, als Fletcher je vermutet hätte. Unter ihren Metaphern, ihrem Gerede vom Bad der Wiedergeburt und dem von Vätern aus Blei erzeugten goldenen Nachfahren strebten sie nach denselben Zielen, die er sein ganzes Leben lang verfolgt hatte.
    Künstliche Methoden, den evolutionären Impuls
    voranzubringen: den Menschen über sich selbst hinauswachsen zu lassen. Obscurum per obscurius, ignotium per ignotius, sagten sie. Sollte das Obskure vom noch Obskureren erklärt werden, das Unbekannte vom Unbekannteren. Sie wußten, 43
    wovon sie schrieben. Fletcher hatte das Problem mittels ihrer und seiner Wissenschaft gelöst. Er hatte eine Flüssigkeit künstlich hergestellt, die das fröhliche Wirken der Evolution durch jeden lebenden Organismus tragen und - so Fletchers Überzeugung - noch die unwichtigste Zelle in ein höheres Dasein zwingen würde. Nuncio hatte er sie genannt: der Bote.
    Heute wußte er, daß der Name falsch war. Er war nicht der Bote der Götter, sondern der Gott selbst. Er hatte ein Eigenleben. Er hatte Energie und Ambitionen. Er mußte ihn vernichten, bevor er begann, die Schöpfungsgeschichte neu zu schreiben - mit Randolph Jaffe als Adam.
    »Vater?«
    Raul war hinter ihn getreten. Der Junge hatte wieder die Kleidung abgelegt. Da er jahrelang nackt gewesen war, konnte er sich nicht an ihre Behinderung gewöhnen. Und er hatte wieder das verdammte Wort benutzt.
    »Ich bin nicht dein Vater«, erinnerte Fletcher ihn. »Das war ich nie und werde es auch nie sein. Geht das denn nicht in deinen Kopf hinein?«
    Raul hörte zu, wie immer. Seine Augen hatten kein Weiß und waren schwer zu deuten, aber der gelassene Blick
    erweichte Fletcher immer wieder aufs neue.
    »Was willst du?« fragte er sanfter.
    »Die Feuer«, antwortete der Junge.
    »Was ist mit ihnen?«
    »Der Wind, Vater...«, fing er an.
    Der Wind hatte in den vergangenen Minuten zugenommen, er wehte direkt vom Meer herein. Als Fletcher Raul zur Vorderfront der Mission folgte, in deren Windschatten sie die Scheiterhaufen des Nuncio errichtet hatten, stellte er fest, daß die Unterlagen verweht, viele davon aber unversehrt und nicht vom Feuer berührt waren.
    »Verdammt«, sagte Fletcher, der ebenso über seine eigene mangelnde Aufmerksamkeit wie die des Jungen erbost war.
    44
    »Ich habe dir doch gesagt: Nicht zuviel Papier auf einmal nachlegen.«
    Er ergriff Rauls Arm, der mit seidigem Haar bedeckt war, wie überhaupt sein ganzer Körper. Ein versengter Geruch war deutlich, wo Flammen emporgeleckt und den Jungen
    überrascht hatten. Er wußte, es
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