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Jennerwein

Jennerwein

Titel: Jennerwein
Autoren: Manfred Böckl
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ihn weitgehend gegen die Ödwiese hin. Ein Blick durch die Wipfel, zum trüben Sonnenfleck inmitten der Nebelwolken, zeigte dem Grauäugigen an, daß er gut gegangen war. Der Tag, der noch immer allerseelentriste, stand erst zwischen Morgen und Mittag. {88} Georg Jennerwein hatte also Zeit. In aller Ruhe konnte er auf das Wild warten. Vorsorglich jedoch zog er schon jetzt die beiden Büchsenhähne auf, stellte den Stutzen schußbereit gegen den Baumstrunk und zog sodann ein Stück Geselchtes und einen Ranken Brot aus der Tasche, um sich nach dem dreistündigen Weg zu stärken. Das salzige Räucherfleisch machte ihm Durst. Kurz überlegte er, ob er einen Schluck aus der flachen Enzianflasche nehmen sollte. Aber dann ließ er es, wollte lieber nicht riskieren, daß sich ihm der Blick eintrübte.
     
    *
     
    Reichlich Schnaps im Blut hatte an diesem Vormittag des 6. November 1877 dagegen Johann Pföderl. Hatte sich wieder einmal besoffen beim Kirchenwirt zu Tegernsee in der vergangenen Nacht, war in der Früh dann mit schmerzendem Schädel von der Bettstatt gewankt. Hatte, um den Dienstgang überhaupt durchstehen zu können, nachgeschüttet. Jetzt näherte er sich der Bodenschneid vom Rinnerspitz her. Lief auf die Reviergrenze zwischen dem wittelsbachischen und dem Staatswald zu, als peitsche ihn etwas vorwärts. Er hätte nicht sagen können, was es genau war. Das Zerren in seinem Gehirn, in seinem verkaterten Körper war einfach da; möglich aber, daß er sich unbewußt an den Westerberg erinnerte, ans 73er Jahr, als der Jennerwein, mehr oder weniger im Niemandsland, zwischen zwei Feuer geraten war.
    Als Johann Pföderl zuletzt die Bodenschneid vor sich sah, zuckte er doch noch einmal zurück. Schlierseer Gebiet war das hier, trotz allem; mit der Büchse auf dem Buckel hatte er dort drüben von Rechts wegen nichts zu suchen. Aber schon befiel ihn erneut das Zerren. Geduckt pirschte er weiter, seinem Instinkt nach, seinem mörderischen; dem immer noch dunklen, schlierigen Trieb hinterher.
    Dann jedoch jäh der grelle Hieb durch den Schädel. Der Blitzstich, das ungeheuerliche Bild: In der Deckung des Wurzelstocks hockend, den Stutzen neben sich, der Widersacher. Herausfordernd die Spielhahnfeder; ungeschützt, arglos der Rücken. Einen Atemzug, so scharf, daß es dünn pfiff, tat Johann Pföderl. Hatte gleichzeitig mit dem Lungenblähen das Gewehr schußbereit. Schlug an jetzt, nahm den Verhaßten ins Visier. Krümmte den Finger ein, wie im Wahn, bis zum Druckpunkt. Sah die Kugel schon fetzen und sich glühheiß ins Fleisch beißen. Hielt den Finger, mit übermenschlicher Anstrengung schier, doch noch zurück. Das Gesetz war dem Pföderl eingefallen, die Vorschriften. Ansprechen mußte er den Wilderer! Ihm die Chance einräumen! Ihm das Aufgeben möglich machen, ohne daß es knallte! So lauteten die Regularien! Dem Pföderl – er knirschte wild mit den Zähnen – waren einmal mehr die Hände gebunden!
    Ins gesetzestreue, ins obrigkeitshörige Denken hinein lichtelte ihm aber gleich darauf etwas anderes. Was war, wenn der Jennerwein es wie damals am Westerberg machte? Wenn er zurückschoß, kaum daß er, der Pföderl, den Mund aufgetan hatte? Wenn ihm die Flucht noch einmal gelang? Oder es zum Feuergefecht kam? Zum Gefecht…?!
    Der zweite mentale Hieb ungleich greller als der erste vorhin. Nur ein Wort hatte Johann Pföderl gedacht, und doch platzte ihm jetzt eine ganze Welt aus den beiden Silben heraus. Um sieben Jahre schmetterte es ihn zurück in den Krieg. Das Bild der Bodenschneid verblich und verwandelte sich in eine kanonenbrüllende französische Landschaft; der ahnungslose Menschenrücken flirrte weg und wurde zum Turko, zum Bestialischen; aus den Grannen einer Spielhahnfeder entstand das viehische Säbelblitzen.
    Durch Blut, Eiter und Kot raste ein Uniformierter. Die Untergebenen hinter sich und das Bajonett aufgepflanzt. Ins Krachen, Bersten und Metzeln hinein. Ins Schrapnellsplittern und Kugelzwitschern. Gegen den Feind. Der brach auf Rossen aus dem Hohlweg, aus der Klamm. Der wollte mit dem Säbel ins Gedärm schlitzen. Den Turko schlachtete der Soldat, warf die Haubitze herum, richtete sie aus. Fetzte die Feinde weg, war ein Sieger, war ein Held. Wurde mit einem Orden geschmückt, während über dem Schlachtfeld der Rauch waberte. Hatte seine Pflicht getan als ein Mörder. Hatte jetzt die Ehre, die Anerkennung, die Liebe – die LIEBE – davon…
    Und wirbelte aus dem Schlachtfeldgeruch wieder heraus
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