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Jennerwein

Jennerwein

Titel: Jennerwein
Autoren: Manfred Böckl
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Steilhang, wo es ihn damals erwischt hatte. Lange lurte er am Rand der Klamm aus dem Dickicht heraus, ungleich vorsichtiger war er als vor einem Jahr; erst als er die Luft völlig rein fand, wagte er sich aus der Deckung.
    Die Steinschrunde erkannte er wieder, gegen die es ihn noch geschleudert hatte, ehe er dann abgestürzt war. Genau an der gleichen Stelle ließ er sich jetzt auf die Hacken nieder, sicherte noch einmal mißtrauisch, verfiel dann ins Sinnieren, in die Erinnerung. Und erlebte, immer wieder unbewußt mit den Zähnen knirschend, die Demütigung neu.
    Den heißen Schlag in den Leib, das Aufreißen irgendwo zwischen Arschbacke und Magen, das hilflose Taumeln gleichzeitig und aus dem heraus das Wegwirbeln. So seltsam zäh der Fall hinunter in die Schlucht. Himmel oben, Himmel unten. Das ungeheuerliche Prügeln der Latschen gegen seinen zerberstenden Körper. Das Steinhämmern, in die Fresse hinein. Das fast schon besinnungslose Aufschlagen, die brüllende Sehnsucht nach der Ohnmacht. Aber irgendwo nach wie vor die Bluthunde, die Jäger. Das mühsame Wiederaufkommen am Lauf des Stutzens entlang, den selbst der heranschauernde Tod ihm nicht hatte aus den Fäusten prellen können. Die hatte ihn gerettet, die Büchse. Die war ihm zum Stab geworden. Zum dritten Bein, neben seinen zerschundenen. Die hatte ihm aus der Klamm herausgeholfen, weg vom Schuß, bis er den aufgegrabenen Dachsbau erreicht hatte, die Höhle, die bloß er allein kannte. Dort hinein ins Stinkige und das Laub übers Schlupfloch. Gezwängt dort drinnen, stundenlang. Die ganze Zeit über im eigenen Blut. Erst in der hereinbrechenden Dämmerung wieder ins Freie. Das Wasser gesucht. Die Hüftwunde ausgewaschen. Die Zunge hatte er sich blutig gebissen, während das Blut ihm erneut über den Bauch, über den Schenkel geflossen war. Der entsetzliche Versuch, mit dem Messer ans Blei zu kommen. Vergeblich! Er hatte es gerade noch eingesehen, ehe der nächste Ohnmachtsanfall ihn gepackt hatte. Dann, im Mondlicht, den Farnpacken über das Zerfetzte, Aufgequollene. Mit einem Streifen Leinwand vom Hemd festgezurrt. Und der Grenze zu, bei jedem Schritt durchmessert. In Heuschober hinein, unter die Dächer verfallener Almhütten während der folgenden Nächte. Der Hunger dazu, das Fieber. Zuletzt aber dann Tirol. Im Dorf Langl {78} mit allerletzter Kraft zum Bader. »Wenn der Wundbrand dich erwischt, dann ist es aus mit dir!« – das hatte der ihm schon gleich nach der ersten, flüchtigen Untersuchung gesagt.
    Hatte das Zusammenfaulen aber dann doch zu verhindern gewußt. Hatte bloß die Kugel nicht herauszuschneiden gewagt, auch dann nicht, als der Eiter einigermaßen abgeflossen war. »Bin kein Chirurgus und kann dich auch nicht zu einem solchen bringen!« Noch immer hatte Georg Jennerwein die Worte im Ohr. »Der müßt’s der Obrigkeit melden, daß du mit dem Stutzen und der Wunde aufgetaucht bist! Hätt’ dann ich das Gefrett – und du noch mehr!«
    So hatte der Girgl sich an den Bleibatzen im Leib gewöhnen müssen. Hatte es auch geschafft, obwohl in der ersten Zeit immer wieder die Alpträume gekommen waren, wenn ihm die Kugel nachts im Fleisch zu wandern schien. Dann, als die Narbe sich allmählich wulstig geschlossen hatte, war es besser geworden. {79} Bloß das Stechen gelegentlich noch, jäh und hinterfotzig. Aber sonst war nichts zurückgeblieben, und nachdem der Rekonvaleszent dem Bader noch einige Zeit den Hausl {80} gemacht hatte, hatte er im Sommer wieder ins Holz ziehen können. Den Stutzen hatte ihm vorerst der Quacksalber verwahrt. Hatte aber dann, gegen den Herbst hin, auf Bezahlung zu drängen begonnen. Den Jennerwein hingegen hatte allmählich wieder der Hafer gestochen. So leichtsinnig wie am Westerberg war er aber nicht noch einmal gewesen. War ein Gebrannter jetzt, ein Angesengter. Keiner war ihm auf die Schliche gekommen deswegen. So hatte er die Schulden abbezahlt und hatte sich selbst, über den mageren Waldlohn hinaus, durchgebracht, bis ihn dann im neuen Jahr immer stärker das Heimweh gepackt hatte. Bis es ihn wieder hergetrieben hatte zur Klamm, wo er jetzt wie erschrocken aus seinem Sinnieren auffuhr und damit den Bogen vom vergangenen Frühling zum gegenwärtigen schloß – und auf einmal wieder nach vorne denken konnte.
    Ungut allerdings war dieses Denken; unter der Spielhahnfeder hervor lichtelte und säbelte es gegen die hin, denen er nicht mehr und nicht weniger als ein paar Schüsse Pulver wert gewesen war. Den
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