Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Jennerwein

Jennerwein

Titel: Jennerwein
Autoren: Manfred Böckl
Vom Netzwerk:
Prolog
     
    Die Szenerie war katholisch, barock; auf unterschwellige Weise blasphemisch dazu.
    Föhnig verwaschene Wolkenbänke hingen über dem Karwendelmassiv. Im hinterfotzig weichen Märzwind pluderten Fahnen. Bronzene und silberne Stangenaufsätze, zwiebelartig gebläht an der Basis, schienen das Firmament zu zernadeln. Da nistete ein Drachenschlächter im Brokat, dort – das Kreuz im unschuldigen Schulterblatt – das Lamm; geisterfahl, blutleer. Kanonenschußscharfes Knattern oder tückisches Zischeln spuckten die Bannerbildnisse aus. Über den geduckten Schädeln der Menschen hieben sie hin und her. Die bläßliche Silhouette der Alpenkette im Süden tratzten sie, unberechenbar peitschend, bei jedem Schritt der keuchenden Träger.
    Der obskurantistische Wurm wälzte sich gegen die Dorfkirche heran und schleppte genau im Zentrum seiner Wamme den protzigen Baldachin mit sich. Den vierpfostigen Traghimmel, den wüst bequasteten, unter dem der Pfarrherr dahinschritt; bei jeder Bewegung schier aus dem eigenen Fleisch platzend. Die zuckenden Hängebacken des Prälaten spiegelten sich in der wie zum Schlag erhobenen Monstranz. Kopfstimmig fistelnd, skandierte der Geistliche die Leitfloskeln der marianischen Litanei: Himmelskönigin! Gottesgebärerin! Unbefleckte Jungfrau! Meerstern! Wundersamer Kelch! Honigsüßes Gefäß!
    »Bitt für uns!« Dem klerikalen Tremolo immer wieder rauhkehlig, bauerndumpf und weiberschrill entgegengesetzt: »Bitt für uns!«
    Dazu das Schmatzen der Holzschuhe und Schnürstiefel im Schlamm, das Magengrollen wegen der Fastenzeit, der ungute Geruch aus den leeren Mägen heraus. Gestank nach altem Schweiß und Stall auch, der aus den ruppigen Kleidern quoll.
    Vorneweg Junge, Stiernackige im Burschenrudel für sich. Dann die älteren Ökonomen, Gütler und Knechte; die gefalteten Hände mager, verkrümmt, hornig. Manche wie Klauen, zwei- oder dreifingrig bloß noch. Von der Sense, vom Häckselmesser, vom Tierbiß gezeichnet, jetzt aber von den Rosenkränzen geschnürt. Ein Einäugiger im Schlagschatten der Fahnen, ein anderer ohne Unterschenkel am Krückstock. Milchig-Narbiges, Amputiertes, noch von den Napoleonischen Kriegen her. Orden, blank oder angeschmutzt, über eingefallenen Brustkörben. Mit pfeifender Lunge ein vorzeitig Vergreister, dem an der Beresina {1} { * } eine Russenkugel die Rippen zersplittert hatte.
    Ganz hinten die unverheirateten Dirnen und Mägde, die gelegentlich wie aufgestörte Gänse zu trippeln begannen. Zwischen ihnen und dem Allerheiligsten gleich einem mattschwarzen Block die Matronen. In überdimensionale Kopftücher gehüllt, deren Fransen ihnen bis hinunter zu den Fersen flatterten. Das »Bitt für uns!« hier besonders klagend und anklagend. Hingewimmert wurde es über vom Alter verquollene Gebetbücher, schien sich metaphysisch in die mitgetragenen Wachsstöcke aus Altötting oder Tuntenhausen {2} zu nagen.
    Jäh dann das blecherne Aufmaunzen der Blaskapelle, als der Baldachin auf der Höhe der Friedhofsmauer anlangte. An den Grabsteinen, am übermoosten Getrümmer vorbei wand sich der Zug. Ein paar Krähen flatterten erschrocken auf, dann saugte das Kirchenportal die Prozessionsteilnehmer in seinen Schlund.
    Der Bittgang faserte sich auf in einzelne Nachzügler. Während die Musik drinnen noch einmal grell schmetterte und dann abbrach, schob sich eine Abgerissene, eine Hochschwangere scheu an die Tür des vorgeblichen Gotteshauses heran. Etwas von einem Frettchen, von einem gescheuchten Tier hatte die Gütlerstochter Maria Jennerwein an sich; ihr Antlitz trug bläulich verfärbte Spuren von Schlägen.
     
    *
     
    Ein Beben lief über die feisten Wangen des Großhartpenninger Pfarrers; ein Schüttern, als würde er von unsichtbaren Mächten gebeutelt. Von den Kanzelputten goldgleißend und nacktärschig gerahmt, reckte sein fleischiges Haupt sich nach vorne, wölbte sein Predigermund sich zu empörter Rundung. Wie zur Götterbeschwörung, möglicherweise aber auch zum Gottwürgen, klammerte er die Finger ineinander, raunzte dann – nach wohlerwogener Kunstpause – los: »Ein Sarg wurde vor die Residenz des Königs zu München getragen! {3} Einen Leichnam holten aufrechte Christenmenschen aus seiner Gruft! Ein nackter Totenschädel klagte den Wittelsbacher an!«
    Wie aus heiterem Himmel heraus gemaulschellt, zogen die Großhartpenninger die Köpfe ein. Mehrere heisere »Jessas-Maria!« wurden laut. Ein weit ausholendes Kreuz schlug der Kleriker und
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher