Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Januarfluss

Januarfluss

Titel: Januarfluss
Autoren: Ana Veloso
Vom Netzwerk:
dass die scheußlichsten und gefährlichsten Abenteuer, hat man sie einmal glücklich überstanden, im Laufe der Zeit ihren Schrecken verlieren und die besten Anekdoten abgeben. Eines Tages berichten wir unseren Kindern und Enkeln von dieser Flucht, und die werden dann die Augen verdrehen und denken: Oma spinnt sich mal wieder eines ihrer verrückten Märchen zusammen.
    Was wirklich verrückt ist, ist die Tatsache, dass es Fernando gelungen ist, sich dem Arm des Gesetzes zu entziehen. Er hat sämtliche Kontakte mobilisiert, alle Verbindungen spielen lassen und einen beträchtlichen Teil seines Vermögens ausgegeben, um wieder auf freien Fuß gesetzt zu werden. Er hat hochrangige Würdenträger für sich bürgen lassen– und sich dann, wie nicht anders zu erwarten, nach Europa abgesetzt. So jedenfalls lauten die Gerüchte, denn ganz genau weiß es niemand. Personen, auf die die Beschreibung des Schufts passt, wurden sowohl auf Passagierschiffen nach Europa gesichtet als auch auf Frachtern nach Nordamerika, auf Amazonasdschunken genau wie auf Walfangbooten vor Feuerland. Er könnte überall stecken. Vermutlich wird ihn hier nie mehr jemand zu Gesicht bekommen: Er hat sich so viele Feinde geschaffen, dass man ihn auf der Stelle verhaften und hängen würde.
    Für den Mord an seinen Eltern konnten genügend Indizien gefunden werden, die für seine Verurteilung ausgereicht hätten. Die arme Dona Margarita, seine Mutter, hat den Brief, wie wir es schon vermutet hatten, tatsächlich nur zwei Tage vor ihrem Ableben verfasst. Sie hatte außerdem zuvor schon allerlei schriftliche Andeutungen über die Bösartigkeit ihres Sohnes gemacht. Als man ihre Schwester ausfindig machte, legte diese jede Menge Briefe vor, aus denen die Angst sprach, die Dona Margarita vor ihrem eigenen Sohn empfand. Wie grauenhaft das sein muss, wenn das eigene Kind einem nach dem Leben trachtet! Ich nehme mir vor, bei meinem nächsten Heimaturlaub auch nach Bela Vista zu fahren und am Grab von Fernandos Eltern eine hübsche Staude zu pflanzen. Sonst tut es ja doch niemand. Eine Margerite wäre doch schön, oder?
    Rosa werde ich auf Bela Vista dann nicht mehr antreffen. Hätte Lu gewusst, dass die Sklaverei schon so bald abgeschafft wird, hätte er sich die Mühe und die Kosten sparen können, die zu Rosas Freilassung geführt haben. Ich habe ihm einen der Smaragdohrringe überlassen, damit er seine Schwester damit freikaufen konnte. Weil Fernando ja bereits fort war und ein vom Gericht bestellter Verwalter sich um alles kümmerte, konnte Lu einen guten Preis aushandeln. Wie schauderhaft, nicht wahr, über den Preis der eigenen Schwester feilschen zu müssen? Nun, diese Zeiten haben ja nun ein Ende.
    Die Kosten für mein letztes Schuljahr trägt übrigens Senhor Fagundes, Alices Vater, dem es ein Graus war, ein schlaues Mädchen wie mich nicht lernen zu lassen. Ich finde, dass ich die wichtigsten Lektionen im Leben nicht in der Schule gelernt habe, aber trotzdem bin ich froh, wieder im Internat sein zu dürfen. Auch wenn mein erwachter Freiheitsdrang hier ein wenig zu kurz kommt.
    Und Lu? Ich habe ihn, seit das Schuljahr wieder angefangen hat, nur selten gesehen. Es ist nicht leicht, auszubüxen, zumal die Mutter Oberin von meiner skandalösen Flucht weiß und mich genau beobachtet. Eine der Nonnen wurde eigens damit beauftragt, mich ständig im Auge zu behalten. Aber da Schwester Consolação jung ist und einen gesunden Schlaf hat, konnte ich ihr ein paarmal entwischen, ohne dass sie irgendetwas davon mitbekam.
    Sosehr ich mich immer auf diese heimlichen Begegnungen mit Lu freue, so sehr fürchte ich sie auch. Die Nähe, die zwischen uns war, muss gehegt und gepflegt werden, sonst verdorrt sie wie eine Blume ohne Wasser. Beim letzten Mal standen wir uns mindestens eine Minute äußerst befangen gegenüber, richtiggehend gehemmt, bevor wir es wagten, uns keusch zu umarmen. Ich habe Angst, dass wir das Größte und Schönste, das wir je erlebt haben, verlieren könnten, einfach nur, weil wir uns zu selten sehen und unsere Lebenswege in verschiedene Richtungen weisen.
    Der heutige Tag wird für Lus weiteres Schicksal– und damit auch für meines– entscheidend sein. Ich werde alles in meiner Macht Stehende unternehmen, um ihm einen perfekten Start in die Freiheit zu ermöglichen. Vielleicht kann er im Büro von
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher