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Januarfluss

Januarfluss

Titel: Januarfluss
Autoren: Ana Veloso
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sich hemmungslos. Ich glaube nicht, dass sie ihren Lebenswandel von nun an entscheidend verändert. Was soll sie auch tun? Hunderttausende ehemaliger Sklaven drängen jetzt auf den Arbeitsmarkt, viele von ihnen werden das Überleben in der unbekannten Freiheit erst lernen müssen. Ich schätze, dass vielen jungen Mädchen und Frauen ein ähnliches Schicksal wie Angélica droht– und diese damit große Konkurrenz bekommt. Aber natürlich hat Angélica ihnen einiges an Erfahrung in dem Gewerbe voraus. Wenn sie es schlau anstellt, kann sie ein eigenes Bordell aufmachen und mehr verdienen als jeder Mann, der sie als Ehefrau nehmen würde. Ich drücke ihr die Daumen.
    Die Familie aus dem dritten Stock habe ich persönlich besucht, es ist kaum drei Wochen her. Das Mädchen, Melissa, trug mein altes Kleid, sie hat es mit ihren bescheidenen Mitteln wieder sehr hübsch hergerichtet. Die Leute sind übrigens nicht aus Polen, sondern aus Deutschland, was mich einigermaßen verwunderte. Ich dachte immer, die Westeuropäer seien alle reich, kultiviert und gebildet. Nun, so kann man sich täuschen. Ich habe mein Versprechen wahr gemacht und den Leuten eine Art Entschädigung gezahlt. In Ermangelung von Bargeld habe ich auf Águas Calmas in die Besteckschublade gegriffen und ein paar wertvolle Dessertmesser aus Silber geklaut, die so bald keiner vermissen wird. Das Obst, das man uns zum Dessert auftischt, wird immer schon in mundgerechten Happen serviert, da braucht kein Mensch ein Dessertmesser.
    Ich denke auch an zu Hause und daran, was dort gerade los sein mag. Hoffentlich stürmen die Feldarbeiter nicht die casa grande und raffen alles an sich, was sie kriegen können. Maria, João und die paar wenigen Schwarzen, von deren Loyalität ich hundertprozentig überzeugt bin, wären gegen diese Überzahl an Plünderern machtlos. Ich bete, dass meinen Eltern nichts Böses widerfährt. Es ist für sie schon schlimm genug, ihr »Vermögen« in Form von Sklaven von jetzt auf gleich zu verlieren. Wenn die Arbeiter das Weite suchen, und genau das befürchte ich, werden auch die Kaffeesträucher nicht mehr abgeerntet werden können, die bereits geernteten Kirschen verrotten auf dem Trockenhof, die fertig für den Export gefüllten Säcke werden im Lager stehen bleiben. Es ist ein ziemlich unheimliches Szenario, und ich hoffe, dass es nicht so schlimm wird wie in meiner Fantasie, die manchmal mit mir durchgeht.
    Was ich mir jedoch trotz meiner blühenden Fantasie nie hätte träumen lassen, ist, dass Gustavo sich neuerdings um meine Gunst bemüht. Er buhlt um meine Aufmerksamkeit, dass es schon peinlich ist. Über seine Schwester Florinda, die ja in meine Klasse geht, lässt er mir fast täglich irgendwelche hohlen Komplimente und Bekenntnisse zukommen. Verstehe einer die Männer! Was findet er jetzt attraktiv an mir, was nicht schon vorher da gewesen wäre? Alice behauptet ja, der Dümmling wolle von meiner Berühmtheit profitieren, aber das bezweifle ich. Was hätte er davon, mit einem Mädchen in Verbindung gebracht zu werden, das in der guten Gesellschaft erledigt ist? Vielleicht ist es der Reiz des Verbotenen. Ich weiß es nicht und es interessiert mich auch gar nicht. Seine kleinen Briefe sind mir nur lästig.
    Annäherungsversuche muss auch Aldemira abwehren. Der Polizist, der am Karnevalssamstag zu unserer Rettung beigetragen hat, der humorlose Harlekin, ist in Liebe zu ihr entbrannt. Nachdem wir alle brav unsere Aussagen gemacht hatten– nach dem Fest auf der praça, versteht sich– und wir anderen unserer Wege gingen, hat er Aldemira nach Hause begleitet. Sie hat es sich mit majestätischer Herablassung gefallen lassen, so als sei eine Polizeieskorte für jemanden wie sie etwas ganz Alltägliches. Seitdem belagert er sie regelrecht. Jetzt, da sie ihr »sicheres« Haus nicht mehr als geheimen Fluchtweg für entlaufene Sklaven nutzen muss, wird sie bestimmt von dort fortziehen. Sie kann das Haus verkaufen und sich woanders ein neues Leben aufbauen. Ich an ihrer Stelle würde es so machen. Wie sie es hält, weiß ich nicht. Ich habe länger nicht mehr mit ihr gesprochen, würde ihr aber demnächst gern einen Besuch abstatten.
    Wir könnten dann gemeinsam eine pinga bei Dona Marta trinken, einen Teller feijoada essen und in Erinnerungen schwelgen. Erfahrungsgemäß ist es ja so,
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