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Januarfluss

Januarfluss

Titel: Januarfluss
Autoren: Ana Veloso
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Irgendwann werden wir frei sein– frei von den Zwängen der Gesellschaft, frei von den Fesseln der Sklaverei.
    Und vor allem: frei füreinander.

Drei Monate später
    13. Mai 1888
    Heute hat Prinzessin Isabel, meine Namenspatronin, die Lei Áurea unterzeichnet, das »Goldene Gesetz«. Es ist das Gesetz, das die Sklaverei in Brasilien ab sofort für beendet erklärt.
    Der Jubel in den Straßen ist unbeschreiblich. Mit der Ruhe unserer sonntagnachmittäglichen Bibellesestunde ist es vorbei. Sogar unsere Aufsicht, die strenge Mademoiselle Françoise, hält es nicht länger an ihrem Pult, weil sie sehen will, was das für ein Tumult draußen ist. Natürlich rennen wir Schülerinnen ebenfalls sofort an die Fenster. Die Lei Áurea wurde vor ein paar Stunden öffentlich ausgerufen und mittlerweile hat sich die Sensation überall herumgesprochen. Die Schwarzen tanzen ausgelassen, sie lachen und umarmen wildfremde Menschen und sind außer Rand und Band. Wie gern wäre ich jetzt in der Rua Formosa oder in der Rua Monte Alegre, wo so viele Schwarze leben! Hier in dieser vornehmen Gegend sind es ja nur die Hausmädchen, Kutscher, Diener, Lieferburschen oder Kinderfrauen, die sich unbändig freuen.
    Alice lehnt neben mir an der Fensterbank. Ich umarme sie spontan, aber sie teilt meine Begeisterung offenbar nicht.
    Â»Was ist los?«, frage ich sie.
    Â»Hast du schon einmal überlegt, was wir heute zu Mittag essen sollen? Die Köchinnen tanzen da draußen mit wildfremden Kerlen, ich habe sie genau erkannt.«
    Â»Ach, dann essen wir eben mal nichts. Das ist ein Ereignis, das noch in hundert Jahren in den Geschichtsbüchern stehen wird, da kann man doch mal ein bisschen großzügig sein.«
    Â»Ja, schon«, sagt sie und zieht die Stirn kraus. »Aber denk das doch mal konsequent weiter. Was machen wir ohne Sklaven?«
    Â»Wir zahlen den Dienstboten einen Lohn, was sonst? Die Köchinnen werden schon morgen wieder kochen, dafür werden sie dann eben bezahlt. So funktioniert es in anderen Ländern ja auch.«
    Ich habe keine Lust, mir in diesem großen historischen Moment Gedanken über banale Alltagsdinge zu machen. Dennoch sickert Alices Besorgnis langsam in mein Bewusstsein. Es wird kolossale Umwälzungen geben. Das Leben, wie wir es bisher kannten, wird sich ändern. Zum Guten, wie ich hoffe. Die Zeit wird es zeigen.
    Ich denke an die Schicksale all jener Menschen, denen ich während der spannendsten Wochen meines Lebens begegnet bin. Was ist aus ihnen geworden? Und was wird jetzt aus ihnen werden?
    Da war zunächst meine erste Pensionswirtin mit ihrem grässlichen Sohn und ihrer alten Sklavin Vovó. Ich habe mich nach Dona Eufrásia erkundigt, denn ich bereue es– ein bisschen zumindest–, sie ohnmächtig geschlagen zu haben. Wie ich erfahren habe, hat sie eine leichte Gehirnerschütterung erlitten, mehr nicht. Sie ist wohlauf und wieder jeden Tag auf dem Friedhof. Die Tatsache, dass sie mich beherbergt hat, hat ihr in ihrem Viertel ein paar Tage des Ruhms beschert. Ich kann mir lebhaft vorstellen, wie sie angeberisch Dinge über mich erzählt hat, die sie frei erfunden hat. Und die alte Vovó? Bestimmt ist Dona Eufrásia schäbig genug, sie vor die Tür zu setzen, jetzt, da sie sie für ihre Dienste bezahlen müsste. Ich muss unbedingt nach der alten Schwarzen fragen und ihr vielleicht unter die Arme greifen, schließlich war auch sie sehr freundlich zu mir.
    Dona Ana, die Wirtin meiner zweiten Absteige, ist, so viel weiß ich von Lu, sehr aktiv im Kampf gegen die Sklaverei gewesen. Im Augenblick wird sie feiern, wie alle anderen. Und dann? Sie ist die Art von Mensch, der niemals auf der faulen Haut liegt. Bestimmt findet sie schnell eine neue Aufgabe, der sie sich verschreiben kann. Senhorita Beatriz, die dort ebenfalls wohnte und die mich damals an die Polizei verpfiffen hat, ist wieder zurück in den Norden gezogen. Nach ihrem Verrat, für den sie keine einzige Kupfermünze von dem Belohnungsgeld kassiert hat, wurde sie in dem Viertel von allen geschnitten und hat diese Ächtung wohl nicht länger ausgehalten. Ich hoffe, sie schmort in der Äquatorhitze von Belém langsam vor sich hin und bekommt das Gelbfieber.
    Und dann Angélica. Sie dürfte in diesem Moment eine derjenigen sein, die es am wildesten treiben. Bestimmt tanzt sie entfesselt in der Rua Formosa herum und betrinkt
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