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Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)

Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)

Titel: Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
Autoren: Charlotte Brontë
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ihn mir dort vorzustellen und verweilte mit wachsendem Grauen dabei. Ich konnte mich nicht an ihn erinnern, aber ich wusste, dass er mein Onkel gewesen war, der einzige Bruder meiner Mutter, dass er mich in sein Haus aufgenommen hatte, als ich ein armes, elternloses Kind gewesen war, und dass er noch in seinen letzten Augenblicken Mrs. Reed das Versprechen abgenommen hatte, mich wie ihr eigenes Kind zu erziehen und zu versorgen. Mrs. Reed war höchstwahrscheinlich der Überzeugung, dass sie dieses Versprechen gehalten habe,und soweit ihre Natur ihr dies erlaubte, hatte sie es wohl auch tatsächlich getan. Wie sollte sie denn auch für einen Eindringling Liebe hegen, der nicht zu ihrer Familie gehörte und nach dem Tode ihres Gatten durch keine Bande mehr an sie gekettet war? Es musste ihr natürlich ärgerlich sein, sich durch ein unter solchen Umständen gegebenes Versprechen genötigt zu sehen, einem fremden Kinde, das sie nicht lieben konnte, die Eltern zu ersetzen; es ertragen zu müssen, dass eine ganz andersartige Fremde sich unaufhörlich in ihren Familienkreis drängte.
    Eine sonderbare Idee bemächtigte sich meiner: Ich zweifelte nicht, ja hatte es niemals bezweifelt, dass Mr. Reed, wenn er noch am Leben wäre, mich mit Güte behandelt haben würde. Und jetzt, als ich so dasaß und auf die dunklen Wände und das weiße Bett blickte, zuweilen auch wie gebannt ein Auge auf den trübe blinkenden Spiegel warf, da begann ich mich an das zu erinnern, was ich von Toten gehört hatte, die im Grabe keine Ruhe finden konnten, weil man ihre letzten Wünsche unerfüllt gelassen hatte. Wie sie jetzt auf die Erde zurückkehrten, um die Meineidigen zu strafen und die Bedrückten zu rächen. Ich stellte mir vor, wie Mr. Reeds Geist, gequält durch das Unrecht, welches man dem Kinde seiner Schwester zufügte, seine Ruhestätte verließ – entweder das Gewölbe der Kirche oder das unbekannte Land der Abgeschiedenen – und in diesem Zimmer vor mir erscheinen würde. Ich trocknete meine Tränen und unterdrückte mein Schluchzen; denn ich fürchtete, dass diese lauten Äußerungen meines Grams eine übernatürliche Stimme zu meinem Trost erwecken oder aus dem mich umgebenden Dunkel ein Antlitz mit einem Heiligenschein hervorleuchten lassen könnten, das sich mit wundersamem Mitleid über mich beugte. Diese vielleicht ganz trostreiche Vorstellung würde entsetzlich sein, wenn sie Wirklichkeit annehmen würde. Mit aller Gewalt versuchte ich, diese Gedanken zu unterdrücken – ich bemühte mich, ruhig undgefasst zu sein. Indem ich mir das Haar von Stirn und Augen strich, hob ich den Kopf und versuchte, in dem dunklen Zimmer umherzublicken. In diesem Augenblick sah ich plötzlich den Widerschein eines Lichtes an der Wand. War dies vielleicht der Mondschein, der durch eine Öffnung in dem Vorhang drang? Nein, die Mondesstrahlen waren ruhig, und dieses Licht bewegte sich; während ich noch hinblickte, glitt es zur Decke hinauf und erzitterte über meinem Kopf. Heute kann ich freilich erraten, dass dieser Lichtstreifen aller Wahrscheinlichkeit nach der Schimmer einer Laterne war, welche jemand über den freien Platz vor dem Haus trug, aber damals, mit dem auf Schrecken und Entsetzen vorbereiteten Gemüt, mit meinen vor Aufregung bebenden Nerven hielt ich den sich schnell bewegenden Strahl für den Herold einer Erscheinung, die aus einer anderen Welt zu mir kam. Mein Herz pochte laut, mein Kopf wurde heiß, und in meinen Ohren spürte ich ein Brausen, das ich für das Rauschen von Flügeln hielt. Etwas schien sich mir zu nähern, ich fühlte mich bedrückt, erstickt, mein Widerstandsvermögen gab nach, ich stürzte auf die Tür zu und rüttelte mit verzweifelter Anstrengung an der Klinke. Eilende Schritte kamen durch den Korridor heran; der Schlüssel wurde im Schloss herumgedreht und Bessie und Miss Abbot traten ein.
    »Miss Eyre, sind Sie krank?«, fragte Bessie.
    »Welch ein fürchterlicher Lärm! Ich bin ganz außer mir!«, rief Abbot aus.
    »Lasst mich raus! Lasst mich ins Kinderzimmer gehen!«, schrie ich.
    »Weshalb denn? Ist Ihnen irgendetwas geschehen? Haben Sie etwas gesehen?«, fragte wiederum Bessie.
    »Oh, ich sah ein Licht, und ich meinte, dass ein Geist kommen würde.« Ich hatte jetzt Bessies Hand ergriffen, und sie entzog sie mir nicht.
    »Sie hat mit Absicht so geschrien«, erklärte Abbot miteinigem Abscheu. »Was für ein Geschrei! Wenn sie große Schmerzen gehabt hätte, so könnte man es noch entschuldigen, aber
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