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Jakob der Luegner

Jakob der Luegner

Titel: Jakob der Luegner
Autoren: Jurek Becker
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Jakob.«
    Jakob trifft fast der Schlag. Da überwindet man sich, mißachtet alle Regeln der Vorsicht und alle Vorbehalte, die ja nicht aus der Luft gegriffen sind, da macht man einen blauäugigen jungen Idioten zum Auserwählten, und was tut die Rotznase? Sie glaubt einem nicht. Und du kannst nicht einfach weggehen, du kannst ihn nicht stehenlassen in seiner Blödheit, ihm sagen, daß ihn der Teufel holen soll, und einfach weggehen.
    Du mußt bei ihm bleiben, deine Wut für eine spätere Gelegenheit aufheben, nicht einmal die Gelegenheit kannst du dir ausmalen. Du mußt um seinen guten Willen betteln, als ob dein eigenes Leben davon abhinge, du mußt deine Glaubwürdigkeit nachweisen, obwohl du das gar nicht nötig hättest, nur er hat es nötig. Und alles das mußt du furchtbar schnell tun, noch ehe sie voreinander stehen, sich die Gewehre auf die Schultern knallen und sich mitteilen, daß es keine besonderen Vorkommnisse gegeben hat.
    »Freust du dich nicht?« fragt Jakob.
    Mischa lächelt ihn freundlich an, »schon gut«, sagt er mit einer Stimme, die ein wenig traurig klingt, der man aber auch eine gewisse Anerkennung für Jakobs reizende Mühe anhören soll. Und dann hat er wieder Wichtigeres zu beobachten. Die Kolonne kommt näher, an dem kleinen Steinhaus, in dem die Eisenbahner und die Posten ihren Aufenthaltsraum haben, sind sie schon vorbei.
    Mischa zittert vor Aufregung, und Jakob versucht, seine Worte schneller laufen zu lassen, als es die Soldaten können.
    Er erzählt seine Geschichte in einer Kurzfassung, warum hat er nicht eher damit angefangen, er erzählt von dem Mann mit dem Scheinwerfer, von dem Korridor in dem Revier, von der Tür, die nach außen aufgegangen ist und ihn versteckt hat. Die Nachricht, die aus dem Zimmer drang, wortwörtlich die Formulierung, die er sich in der Nacht tausendmal wiederholt hat, nichts hinzugefügt und nichts verschwiegen. Die kurze Gefangenschaft im Türspalt läßt er weg, nur das Wesentliche, auch nichts von dem Mann, der ihn zum Wachhabenden gebracht hat, ein Statist in der Geschichte, nur vom Wachhabenden selbst, der ein Mensch gewesen sein muß und darum ein schwaches Glied in der ansonsten logischen Beweiskette. Er hat auf die Uhr gesehen wie ein Mensch, und dann hat er zu Jakob gesagt, er soll nach Hause gehen, wie ein Mensch.
    Und dann sieht Jakob mit Entsetzen, daß Mischa durch nichts mehr aufzuhalten ist, nur noch durch Gewißheit, und die Soldaten stehen schon voreinander, man muß den Feind schlagen, wenn er am wenigsten damit rechnet, wenn seine Aufmerksamkeit also am geringsten ist. Mischa hat sich geduckt und ist auf dem Sprung, weit sind Gewißheit und Russen, das letzte, was Jakob tun kann, ist nach ihm greifen und ihn am Bein festhalten. Sie fallen beide hin, Jakob sieht den Haß in Mischas Augen, er hat ihm eine Chance verdorben, zumindest versucht er es. Mischa macht sich los, nichts mehr kann ihn aufhalten, er stößt Jakob weg.
    »Ich habe ein Radio!« sagt Jakob.
    Nicht die Posten haben geschossen. Die haben bis jetzt nichts gesehen, die sind beschäftigt mit ihrem Abwechselspiel, Jakob hat geschossen und ins Herz getroffen. Ein Glücksschuß, von der Hüfte und ohne richtig gezielt zu haben, und doch hat er getroffen. Mischa bleibt reglos sitzen, die Russen sind vierhundert Kilometer von uns entfernt, bei irgendeinem Bezanika, und Jakob hat ein Radio. Sie sitzen auf der Erde und sehen sich an, es hat nie einen Waggon gegeben mit Kartoffeln, keiner hat je auf die Ablösung gewartet, ganz plötzlich ist morgen auch noch ein Tag. Es stimmt zwar immer noch, daß Aussicht auf Erfolg und Risiko zwei Seiten ein und derselben Medaille sind, aber man muß verrückt sein, wenn man übersieht, daß zwischen beiden irgendwie ein gesundes Verhältnis herrschen muß.
    Sie sitzen noch ein bißchen, Mischa lächelt glücklich mit seinen Augen wie ein Goj, so hat ihn Jakob zugerichtet. Jakob steht auf, man kann nicht ewig sitzen, er ist noch wütender als vorhin. Er ist gezwungen worden, verantwortungslose Behauptungen in die Welt zu setzen, der ahnungslose Idiot da hat ihn gezwungen mit seinem lächerlichen Mißtrauen, bloß weil er plötzlich Appetit auf Kartoffeln bekommen hat. Er wird ihm schon noch die Wahrheit sagen, nicht sofort, aber heute noch, egal ob morgen dieser Waggon noch da steht oder nicht.
    In einer Stunde schon, höchstens in einer Stunde, vielleicht sogar früher wird er ihm die Wahrheit sagen, soll er sich noch ein paar Minuten
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