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Jakob der Luegner

Jakob der Luegner

Titel: Jakob der Luegner
Autoren: Jurek Becker
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aber immer ein paar Meter dazwischen, nur im Vorübergehen, den Rücken unter einer Last oder unterwegs zu neuer Ladung. Die Gelegenheit für ein klärendes Wort war noch nicht da, man kann ihn nicht einfach zur Seite nehmen und sagen, die Sache ist nämlich so und so.
    Jedesmal wenn sie sich sehen, zwinkert ihm Mischa zu oder lächelt oder schneidet eine Grimasse oder winkt heimlich, ob mit Kiste oder ohne, ihm macht das kaum etwas aus, jedesmal irgendwas Vertrauliches, wir beide wissen, was los ist. Einmal vergißt sich Jakob und zwinkert zurück, aber er besinnt sich gleich wieder, das ginge zu weit, das verbaut den Weg zu der Gelegenheit. Doch es liegt nicht in seiner Macht, von Mal zu Mal wird sein Ärger schwächer, der Junge hat ja recht mit seiner Freude, wie soll er sich nicht freuen nach allem, was passiert ist.
    Der Tag ist blau, wie ausgesucht für das Fest. Der Posten an der Holzbaracke sitzt auf ein paar Ziegelsteinen, hat das Gewehr abgenommen, neben sich gestellt, lehnt den Kopf an die Wand, hält die Augen geschlossen und sonnt sich. Er lächelt, er könnte einem fast leid tun.
    Jakob geht an ihm vorbei und betrachtet ihn, er geht ganz langsam, studiert das Gesicht mit den geschlossenen Augen, er hält das Lächeln fest, den großen Adamsapfel, den dicken Siegelring aus Gold am kleinen Finger des Postens. Jakob geht weiter und entdeckt, wie er mir gesagt hat, daß er anders geworden ist. Seine Sinne sind plötzlich viel wacher, von einem Tag auf den anderen, er beginnt zu beobachten.
    Die teilnahmslose Verzweiflung hat die Aufregungen der letzten Nacht nicht überlebt, nichts mehr von der Dumpfheit, es ist jetzt, als müßte man sich alles genau einprägen, um hinterher darüber berichten zu können. Hinterher.
    Jakob denkt sich ein unschuldiges Spielchen aus. Auf dem Weg zum Waggon oder auf dem Weg zurück zu den Kisten geht er immer ganz dicht an dem dösenden Posten vorbei.
    Steigt fast über seine ausgestreckten Beine, so dicht, und nimmt ihm jedesmal für einen kurzen Augenblick die Sonne.
    Der Posten bemerkt es natürlich nicht, öffnet nicht einmal die Augen, obwohl er nicht schläft, bewegt einmal nur leicht den Kopf oder zuckt mit dem Mund, unwillig, will Jakob scheinen, oder tut gar nichts. Aber bei jedem Passieren geht ihm ein bißchen Sonne verloren. Jakob treibt das Spielchen so lange, bis ein anderer Kistenstapel an die Reihe kommt. Der Posten liegt nicht mehr auf dem Weg, man müßte einen Umweg machen, wofür der Spaß wieder zu klein ist und das Risiko zu groß.
    Jakob sieht mit Genugtuung, daß ein paar Wölkchen seinen Schabernack weitertreiben. Dann ist Mittag.
    Aus dem Steinhaus tritt ein Mann in Eisenbahneruniform, seit wir hier arbeiten immer derselbe. Er hat ein steifes Bein, das bei jedem Schritt Geräusche macht wie ein kleiner Kiesel, der ins Wasser fällt, also ein Holzbein. Wir nennen ihn die Pfeife, keineswegs abwertend, denn über seine menschlichen oder fachlichen Qualitäten ist uns nichts bekannt.
    Das einzige, was wir gegen ihn haben, er ist eben Deutscher, was bei Lichte besehen freilich kein Grund für eine schlechte Meinung sein darf, aber so ungerecht macht mitunter die Not.
    Sobald er aus dem Haus kommt, zieht er aus der Brusttasche eine Trillerpfeife, die mit einer schwarzen Kordel am Knopfloch befestigt ist, und pfeift dabei mit beachtlicher Lautstärke, zum Zeichen, daß jetzt Mittag ist.
    Dies ist der einzige Laut, den wir jemals von ihm gehört haben, vom Plätschern seines Holzbeins abgesehen, darum nennen wir ihn die Pfeife. Womöglich ist er stumm.
    Wir stellen uns in einer Reihe auf, sehr beherrscht und ohne die geringste Drängelei. Das haben sie uns so beigebracht, unter Androhung von keinem Essen. Es muß aussehen, als hätten wir im Moment gar keinen Appetit, schon wieder dieses Essen, kaum hat man sich richtig eingearbeitet, wird man schon wieder unterbrochen durch eine der vielen Mahlzeiten. Wir stellen uns also in einer Reihe auf, ohne Eile, du blickst dich um und richtest dich aus, bis alle auf einer gedachten schnurgeraden Linie stehen, du überprüfst am ausgestreckten Arm den Abstand zum Vordermann, korrigierst ein paar Zentimeter, damit der Anschein entsteht, man befindet sich hier unter gesitteten Menschen. Der Eßlöffel wird aus der Hosentasche genommen, in die linke Hand, an die linke Hosennaht. Dann kommt der Handwagen um die Barackenecke, der Stapel Blechschüsseln neben den zwei dampfenden grünen Feldkesseln. Der Wagen hält am Kopf
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