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Jakob der Luegner

Jakob der Luegner

Titel: Jakob der Luegner
Autoren: Jurek Becker
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Kameradschaft und ähnlichem Zeug, wer so redet, versteht nichts von hier, aber auch gar nichts. Ich selbst gehöre nicht zu den Riesen, ich habe sie verwünscht und gehaßt wie die Pest, wenn ich mit einem Burschen wie mir schleppen mußte. Aber wenn ich einer von ihnen gewesen wäre, hätte ich es genauso gemacht, ganz genauso und nicht anders.
    Jakob und Mischa tragen eine Kiste zum Waggon.
    Mischa ist ein langer Junge von fünfundzwanzig, mit hellblauen Augen, was bei uns eine große Seltenheit ist. Er hat einmal bei Hakoah geboxt, drei Kämpfe bloß, von denen er zwei verloren hat, und einmal ist der Gegner wegen Tiefschlag disqualifiziert worden. Er war Mittelgewichtler, das heißt, eigentlich war er schon mehr im Halbschwergewicht, doch sein Trainer hat ihm geraten, die paar Pfund herunterzutrainieren, Weil die Konkurrenz im Halbschwergewicht zu groß war.
    Mischa hat den Rat befolgt, aber es hat nicht viel geholfen, auch im Mittelgewicht ist er nicht groß herausgekommen, wie seine drei Kämpfe beweisen. Er hat schon mit dem Gedanken gespielt, sich ein Schwergewicht anzufressen, vielleicht wäre es dort besser gegangen. In der Gegend von hundertsiebzig Pfund ist ihm das Ghetto dazwischengekommen, und seitdem geht es mit seinem Gewicht langsam abwärts. Trotzdem ist er noch einigermaßen bei Kräften, er hätte eigentlich einen besseren Partner als Jakob verdient. Viele sind der Ansicht, daß ihn seine Gutmütigkeit noch einmal den Kopf kosten wird, aber keiner sagt es ihm, vielleicht kommt er selbst einmal in den Genuß.
    »Glotz nicht in der Gegend rum und achte auf den Weg. Wir werden beide noch fallen«, sagt Jakob. Er ist wütend, weil die Kiste so schwer ist, trotz Mischa, und vor allem ärgert er sich, seit er weiß, daß Mischa der erste sein wird, dem er es erzählt, er weiß nur noch nicht, mit welchen Worten er anfangen soll.
    Sie stellen die Kiste auf dem Waggonrand ab, Mischa ist wirklich nicht bei der Sache, sie gehen zurück zum Stapel, um eine neue zu holen. Jakob versucht, Mischas Blick zu folgen, Mischa macht ihn verrückt mit seinem Wegsehen, der Bahnhof sieht aus wie immer.
    »Der Wagen da«, sagt Mischa.
    »Welcher Wagen?«
    »Auf dem vorletzten Gleis. Der ohne Dach.« Mischa flüstert, obwohl der nächste Posten mindestens zwanzig Meter entfernt steht und nicht einmal zu ihnen sieht.
    »Und?« fragt Jakob.
    »In dem Wagen sind Kartoffeln.«
    Jakob meckert die ganze nächste Kiste über, dann sind eben Kartoffeln drin, was ist daran schon Besonderes, Kartoffeln sind erst dann interessant, wenn man sie hat, wenn man sie kochen oder roh essen oder Puffer aus ihnen machen kann, aber nicht, wenn sie in irgendeinem Waggon liegen, auf einem Bahnhof wie diesem, Kartoffeln in dem Waggon dort sind die langweiligste Sache von der Welt. Und wenn dort eingelegte Heringe wären oder gebratene Gänse oder Millionen Töpfe voll Tscholent, Jakob redet und redet, Mischa soll auf andere Gedanken kommen und in Gespräche verwickelt werden.
    Bloß er hört nicht hin, die Posten müssen bald abgelöst werden, sie machen immer eine kleine Zeremonie daraus, mit Strammstehen und Meldung und Gewehr über die Schulter, und das ist der einzige Moment, in dem man es versuchen könnte. Die Einwände Jakobs sind nicht ernst zu nehmen, natürlich ist es ein Risiko, schön, sogar ein großes Risiko, und was weiter? Kein Mensch hat behauptet, daß die Kartoffeln schon so gut wie gegessen sind, jede Chance ist ein Risiko, muß man das einem Geschäftsmann erklären, wenn kein Risiko dabei wäre, dann wäre das auch keine Chance. Dann wäre das eine sichere Sache, sichere Sachen sind selten im Leben, Risiko und Aussicht auf Erfolg sind die zwei Seiten einer Medaille.
    Jakob weiß, daß nicht mehr viel Zeit bleibt, der Junge ist in einem Zustand, in dem man nicht normal mit ihm reden kann.
    Und dann sieht er die Ablösung in einer Kolonne anmarschieren, und jetzt muß er es ihm sagen.
    »Weißt du, wo Bezanika liegt?«
    »Gleich«, sagt Mischa aufgeregt.
    »Ob du weißt, wo Bezanika liegt?«
    »Nein«, sagt Mischa, und seine Augen begleiten die Kolonne auf ihren letzten Metern.
    »Bezanika ist ungefähr vierhundert Kilometer von uns …«
    »Aha.«
    »Die Russen sind zwanzig Kilometer vor Bezanika!«
    Mischa gelingt es für einen Augenblick, seine Blicke von den marschierenden Soldaten frei zu machen, seine seltenen Augen lächeln Jakob an, im Grunde ist das ja sehr nett von Heym, und er sagt: »Das ist nett von dir,
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