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Jakob der Luegner

Jakob der Luegner

Titel: Jakob der Luegner
Autoren: Jurek Becker
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daß diese Nachbarschaft rein zufällig ist.
    Ich habe mich nicht neben ihn gedrängt, ich gehe nicht so weit wie einige Dummköpfe, die ihm eine Art Mitschuld an dieser Reise geben, doch ich kann nicht leugnen, daß ich einen ungerechten Groll gegen ihn spüre, weil alle Häuser, die ich auf die von ihm gelieferten Fundamente gebaut habe, zusammengestürzt sind. Ich habe mich nicht neben ihn gedrängt, mir ist es gleichgültig, neben wem ich fahre, es hat sich einfach so ergeben. Durch Jakobs Beine hindurch sehe ich Lina, die ich bisher nur vom Hörensagen kannte, sie sitzt auf dem Rucksack. Lina macht ihn mir wieder sympathischer, ich denke, welcher andere hätte schon ein Kind auf sich geladen, und ich denke, das wiegt mindestens so schwer wie meine Enttäuschung.
    Ich würde gerne mit ihr Bekanntschaft schließen, durch Augenzwinkern oder Grimassenschneiden, wie man das so tut, aber sie nimmt mich gar nicht zur Kenntnis. Sie blickt versonnen auf die Erde, bestimmt beschäftigen sie solche Gedanken, die allen anderen jetzt fremd sind, denn sie lächelt manchmal vor sich hin. Oder ihre Lippen formen lautlose Worte, oder sie zieht ein Gesicht, als wäre sie ihrer Sache nicht sicher, es macht Spaß, ihr zuzusehen. Ich finde auf dem Boden ein rundes Steinchen, das schnipse ich ihr gegen den Arm. Sie taucht aus ihren Überlegungen auf, schaut, wer das gewesen sein könnte, überallhin, nur nicht zu mir.
    Dann sieht sie auf zu Jakob, der, über jeden Verdacht erhaben, unbeweglich vor der Luke steht, seine ganze Aufmerksamkeit gehört dem draußen vorüberziehenden Land. Sie pocht gegen seine Wade.
    Er blickt nach unten und fragt: »Was ist?«
    »Erinnerst du dich an das Märchen?« fragt Lina.
    »An welches?«
    »Von der kranken Prinzessin?«

    »Ja.«
    »Ist das wahr?«
    Man kann deutlich in seinem Gesicht lesen, daß er es seltsam findet, woran sie gerade jetzt denkt.
    »Natürlich ist das wahr«, sagt er.
    »Aber Siegfried und Rafi haben es mir nicht geglaubt.«
    »Vielleicht hast du schlecht erzählt?«
    »Ich habe genauso erzählt wie du. Aber sie sagen, so etwas gibt es auf der ganzen Welt nicht.«
    »Was gibt es nicht?«
    »Daß man wieder gesund werden kann, wenn man ein Stück Watte bekommt.«
    Jakob beugt sich zu ihr und hebt sie an das Fensterchen. Ich stehe auch auf, denn die Räder machen doch einen ordentlichen Lärm, und ich möchte hören, wie es weitergeht.
    »Aber das stimmt?« sagt Lina. »Die Prinzessin wollte ein Stück Watte, so groß wie ein Kissen? Und als sie es bekam, wurde sie wieder gesund?«
    Ich sehe, wie Jakobs Mund breiter wird, er sagt: »Nicht ganz.  Sie wünschte sich eine Wolke. Der Witz ist, daß sie dachte, Wolken sind aus Watte, und nur deswegen war sie mit der Watte zufrieden.«
    Lina sieht eine Weile hinaus, mir will scheinen verwundert, bevor sie ihn fragt: »Aber sind denn Wolken nicht aus Watte?«
    Zwischen ihren Köpfen erkenne ich ein Stück Himmel mit wenigen Wolken dann, und ich muß zugeben, daß die Ähnlichkeit tatsächlich verblüffend ist, sie sehen aus wie Wattebäusche.
    »Woraus sind Wolken sonst?« fragt Lina.

    Doch Jakob vertröstet sie mit der Antwort auf später, wohl auch, weil sie ihm allmählich zu schwer wird, er setzt sie zurück auf den Rucksack und läßt dann weiter die Bilder an sich vorbeiziehen.
    Jetzt halte ich meine Stunde für gekommen. Ich setze mich auch, rücke näher an sie heran und frage, ob sie von mir erklärt haben möchte, woraus Wolken sind. Natürlich will sie das, und ich erzähle ihr von Flüssen und Seen und vom Meer, vom ewigen Kreislauf des Wassers, von der kaum glaublichen Sache mit der Verdunstung, wie das Wasser unsichtbar in den Himmel fließt, in winzigen Tröpfchen, sich dort zu Wolken sammelt, die irgendwann so schwer und naß wie vollgesogene Schwämme werden, bis sie die Tropfen als Regen wieder verlieren. Ich lasse auch den Dampf nicht aus, von Lokomotiven beispielsweise und Schornsteinen und allen möglichen Feuern, sie hört mir aufmerksam zu, aber skeptisch, ich weiß, daß die ganze lange Geschichte nicht mit einer Lektion zu erledigen sein wird. Ich sehe auch, wie Jakob mich freundlich ins Auge faßt, vielleicht ist meine Schulstunde schuld daran, daß er mir wenige Tage später eine viel verrücktere Geschichte erzählt, ausgerechnet mir. Denn daß ich als einer von wenigen überlebe, steht nicht in meinem Gesicht geschrieben.
    Als mein Wissen um die Entstehung und Zusammensetzung der Wolken erschöpft ist, sage
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