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Jakob der Luegner

Jakob der Luegner

Titel: Jakob der Luegner
Autoren: Jurek Becker
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wird.
    Uns kommt es vor, als lernte Jakob die wenigen Zeilen auswendig, so lange steht er unbeweglich vor dem Plakat.
    Warum steht er so lange, fragen wir uns stumm und Böses ahnend, wie wird sein Gesicht aussehen, wenn er es uns wieder zeigt, und was wird er sagen, irgendwas muß er doch sagen, ich sehe auch, daß die ersten leise die Reihe verlassen.
    Ich weiß beklemmend genau, daß sie recht haben, es gibt hier nichts mehr zu erwarten, trotzdem hoffe ich weiter und rühre mich nicht vom Fleck, wie die meisten.
    Es lohnt nicht. Nach einer Ewigkeit dreht Jakob sich um, präsentiert uns zwei leere Augen, und im gleichen Augenblick erkennt auch der Dümmste, daß alle Seligkeit verspielt ist. Jakob hat, so erzählt er, nicht die Zeit für privates Entsetztsein über den Lauf der Dinge, davor drängt sich das Entsetzen der anderen, die ihn ansehen wie geprellte Gläubiger, wie einen, für den der Tag gekommen ist, die so leichtfertig verteilten Pfänder endlich einzulösen. Wieder steht er lange und wagt den Blick nicht aufzurichten, und sie machen es ihm auch nicht leichter, indem sie zum Beispiel verschwinden, für die fünf Kilogramm Gepäck, die auszuwählen sind, bleibt noch Zeit in Hülle und Fülle, sozusagen der ganze Rest des Lebens. Das Gäßchen, das sich Jakob auf seinem Weg zum Tor geöffnet hat, ist hinter ihm zugeschlagen, jetzt steht er in einem engen Halbkreis, nach Jakobs eigenen Worten wie ein Spaßmacher, der im entscheidenden Moment seinen Text vergessen hat.
    »Habt ihr nichts Besseres zu tun als Maulaffen feilhalten?«  fragt ein Posten hinter dem Zaun.
    Wir bemerken ihn erst jetzt, er steht einige Meter neben dem Tor, und nur er weiß wie lange schon. Gehört hat er jedenfalls nicht viel, obwohl alles Wichtige bereits gesagt ist. Man rührt sich endlich von der Stelle, wozu ihn unnötig reizen, man geht stumm auseinander. Der Posten schüttelt belustigt den Kopf über diese seltsamen Wesen, Jakob ist ihm fast dankbar wegen der ungewollten Hilfe.

    Zu Hause angekommen, geht Jakob sofort auf den Boden.
    Er erwartet, Lina noch im Bett anzutreffen, aber sie ist nicht einmal mehr in dem Raum. Dabei hat das Wetter keineswegs seinen besten Tag, nur wenige blaue Flecken zeigen sich am Himmel, Jakob kann sich denken, daß seine Anweisungen nicht allzu ernst genommen werden. Ihr Bett ist ordentlich gemacht, das Stück Brot vom Teller auf der Kommode verschwunden, gleich nachdem er sich am Morgen von ihr verabschiedet hat, wird sie aufgestanden und zu irgendwelchen Unternehmungen geeilt sein, von denen man nie etwas erfährt. Jakob beschließt, sie später erst zu suchen, zunächst ihre Sachen einzupacken, dann seine, wenn das geschehen ist, wird Lina sich immer noch finden. Dabei macht er sich keine Gedanken, ob der Anschlag am Tor nur für die auf dem Bahnhof Beschäftigten gilt oder für alle Ghettobewohner. Denn es bleibt ihm keine andere Wahl, als sie mitzunehmen, Lina zurückzulassen hieße nicht, auf ein ungewisses Schicksal für sie zu hoffen, das ist leicht ausgerechnet.
    Die vorgeschriebene Höchstmenge Gepäck erweist sich als reichlich großzügig, ihr sämtliches brauchbares Zeug ergibt zusammen kaum mehr als eine Handvoll. Jakob stopft Wäsche, Strümpfe und Schal in die Taschen, als er das Winterkleid zusammenlegt, erscheint Lina. Sie hält einen kleinen Rest Brot in den Fingern, Jakobs Anwesenheit verwundert sie sehr. Doch gleich fallen ihr seine mißbilligenden Augen auf, die sie auch sofort richtig deutet, er wird ungehalten sein, weil sie entgegen seinen Wünschen den Boden verlassen hat.
    »Ich war nur bei der Pumpe. Ich hatte Durst«, erklärt sie.
    »Schon gut«, sagt Jakob.
    Er macht das Kleid fertig und gibt es ihr zu halten, dann sieht er sich um, öffnet noch einmal die Türen der Kommode, ob etwas vergessen worden wäre.
    »Werde ich jetzt wieder bei dir unten wohnen?« fragt Lina.
    »Komm«, sagt er.
    Sie gehen in sein Zimmer. Auf der Treppe begegnen sie dem Nachbarn Horowitz, der vermutlich aus dem Keller kommt und sich mit einem großen Lederkoffer abmüht, dessen Schlösser den Deckel nicht halten.
    »Was ist Ihre Ansicht dazu?« fragt Horowitz.
    »Raten Sie mal«, sagt Jakob.
    Jetzt erst weiß er mit Sicherheit, daß die Verordnung am Bahnhofstor allgemeingültig ist, die unsinnige Frage von Horowitz und der Koffer in seiner Hand, an jedem Fabrikeingang wird über Nacht solch ein Anschlag erschienen sein.
    »Haben Sie zufällig gehört, wohin sie uns bringen?«
    »Nein«,
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