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Jakob der Luegner

Jakob der Luegner

Titel: Jakob der Luegner
Autoren: Jurek Becker
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jetzt in Gang gesetzt, bearbeitet flink den dünnen Draht, der ihr auf die Dauer nicht widerstehen kann, der schneller reißt als erwartet.
    Aber das Geräusch dabei, denn er ist straff gespannt, dieses schauderhafte Singen, dem Jakob zutraut, es könnte eine ganze Stadt aus dem Schlaf reißen. Er hält den Atem an und horcht voller Angst, aber alles bleibt ruhig wie gehabt, nur allmählich heller wird es, denn keine Wolke dauert ewig. Der nächste Draht ist zehn Zentimeter höher, also zwanzig über der Erde. Jakob überlegt, daß darunter hinwegzukriechen mit einiger Gefahr für Leib und Kleidung verbunden wäre, er ist zwar gewaltig abgemagert gegen früher, aber doch ein ausgewachsener Mann.
    Andererseits möchte er die Stille nicht noch einmal aufs Spiel setzen, indem er den zweiten Draht zum Klingen bringt, der wird um keinen Deut leiser als der erste, und ein dritter Weg findet sich weit und breit nicht.
    Jakob liegt noch unschlüssig, zupft vorsichtig an dem einen Draht herum, ob er zu lockern wäre und somit in der Lautstärke zu besänftigen, wenn die Zange ihn kappt, da wird ihm die Entscheidung von höherer Stelle abgenommen. Ich sagte gleich, dieses mein Ende geht ein wenig auf Kosten Jakobs, eine lärmende Salve aus einer Maschinenpistole stört die Nachtruhe, unser Posten hat nicht gar so fest geschlafen.
    Und es gibt nichts mehr zu überlegen, und Jakob ist tot und am Ende sämtlicher Mühe.
    Doch damit nicht genug, was wäre das auch für ein Ende, ich stelle mir weiter vor, daß das Ghetto längst noch nicht zur Ruhe kommt. Ich male mir die Rache für Jakob aus, denn dies ist nach meinem Willen die kühle und sternenklare Nacht, in der die Russen kommen. Soll es der Roten Armee gelungen sein, die Stadt in kürzester Frist zu umzingeln, der Himmel wird hell vom Feuer der schweren Geschütze, sofort nach der Salve, die Jakob gegolten hat, hebt ein ohrenbetäubendes Donnern an, als wäre es von dem unglücklichen Schützen auf dem Postenturm versehentlich ausgelöst worden. Die ersten gespenstischen Panzer, Einschläge im Revier, die Postentürme brennen, verbissene Deutsche, die sich bis zum letzten Schuß verteidigen, oder flüchtende Deutsche, die kein Loch finden, um sich darin zu verkriechen, lieber Gott, wäre das eine Nacht gewesen. Und hinter den Fenstern weinende Juden, für die alles so plötzlich kommt, daß sie nur ungläubig dastehen können und sich an den Händen halten, die für ihr Leben gerne jubeln möchten und es nicht fertigbringen, dazu wird später noch Gelegenheit sein.
    Ich stelle mir vor, im Morgengrauen sind die letzten Kämpfe beendet, das Ghetto ist kein Ghetto mehr, sondern nur noch der schäbigste Teil der Stadt, jeder kann gehen, wohin es ihm gerade einfällt.
    Wie Mischa denkt, daß es Jakob nun bestimmt besser gehen wird, wie er Lina zu ihm bringen will und ihn nicht antrifft, wie das Brot schmeckt, das uns reichlich gegeben wird, was mit den armen Deutschen geschieht, die uns in die Hände fallen, das alles und mehr ist mir nicht wichtig genug, um dafür Platz in meinem Ende zur Verfügung zu stellen.
    Wichtig ist mir nur eins.
    Einige der Juden verlassen das Ghetto über den alten Gemüsemarkt. Dort sieht man einen Mann ohne Sterne liegen, die Zange noch in der verkrampften Rechten, unter dem Stacheldraht mit dem einen durchkniffenen Band, eindeutig beim Fluchtversuch überrascht. Man dreht ihn auf den Rücken, wer ist dieser unglückliche Mensch, wird gefragt, und irgendeiner steht in der Nähe, der Jakob kennt. Am besten wohl Kowalski, aber auch ein Nachbar oder ich oder sonst einer vom Bahnhof könnte es sein, jedenfalls irgendeiner, der ihn kennt, Lina ausgenommen. Dieser eine starrt entsetzt auf Jakobs Gesicht, vielleicht hat ihn an dem Tag, an dem er beschließen wollte, sich den Rest seines Lebens zu ersparen, die erste gute Nachricht von Jakob erreicht, er murmelt nun leise Worte des Unverstehens vor sich hin.

    Man fragt ihn: »Was redest du da von unbegreiflich? Der arme Kerl wollte fliehen, weil er nicht gewußt hat, daß es so bald vorbei ist. Was daran ist unbegreiflich?«
    Und der eine, dem sich die Kehle zuschnürt, unternimmt den hoffnungslosen Versuch zu erklären, was ihm auf ewig unerklärlich bleiben wird.
    »Das ist doch Jakob Heym«, sagt er. »Versteht ihr? Jakob Heym ist das. Warum wollte er fliehen? Er muß verrückt geworden sein. Er wußte doch genau, daß sie kommen. Er hatte doch ein Radio …«
    Das ungefähr sagt er und geht
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