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Jakob der Luegner

Jakob der Luegner

Titel: Jakob der Luegner
Autoren: Jurek Becker
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sagt Jakob.
    Er beeilt sich mit Lina in sein Zimmer, bevor er in längere Dispute verwickelt werden kann, höchstens hätte er noch Lust zu erfahren, was der alleinstehende Horowitz sich von dem riesigen Koffer verspricht, auf seinem Plakat werden doch nicht vier Zentner pro Person gestanden haben.
    Als die Tür hinter ihnen geschlossen ist, verrät Lina, daß sie Horowitz nicht ausstehen kann. Sie macht jedesmal einen großen Bogen um ihn, weil er ständig Ermahnungen für sie bereithält, etwa nicht herumzulungern, zu grüßen, nicht so frech zu blicken, den Lärm gefälligst zu unterlassen, irgend etwas fällt ihm immer ein. Einmal hat er sie sogar am Arm geschüttelt, weil sie das Treppengeländer heruntergerutscht und vor seinen Füßen gelandet ist. Jakob sagt: »Na so was.«
    Nachdem er Linas Sachen aus den Taschen geräumt und auf den Tisch gelegt hat, beginnt er zu packen. Das heißt, vorher ist die Wahl Koffer oder Rucksack zu treffen, Platz wäre in beiden reichlich. Die Handlichkeit gibt den Ausschlag für den Rucksack, denn auf einer ungewiß langen Reise, auf der die eine Hand fortwährend für Lina zur Verfügung stehen muß, kann sich ein Koffer zur Plage auswachsen.
    Lina hofft eine gute Weile geduldig, daß Jakob ihr sein seltsames Tun von selbst erklärt, aber er sagt nur von Zeit zu Zeit, gib mal das, halt mal jenes, und kein Wort gegen ihre Neugier. Deshalb muß sie fragen: »Warum packst du denn die ganzen Sachen ein?«
    »Na, warum packt man wohl Sachen ein?«
    »Ich weiß nicht«, sagt sie und unterstreicht mit heftigem Achselzucken, wie man es von ihr schon kennt, die Schultern bis an die Ohren.
    »Dann überlege mal.«
    »Weil man wegfährt?«
    »Genau darum, du Schlaukopf.«
    »Wir fahren weg?« ruft Lina, und es klingt ein bißchen wie:  »Und das sagst du mir jetzt erst?«
    »Ja, wir fahren weg«, sagt Jakob.
    »Wohin?«

    »Das weiß ich nicht so genau.«
    »Weit oder nah?«
    »Ich glaube, ziemlich weit.«
    »So weit wie nach Amerika?«
    »Nein.«
    »Und wie nach China?«
    »Auch nicht.«
    »Und so weit wie nach Afrika?«
    Jakob weiß aus Erfahrung, daß sie fähig ist, solch Spiel über Stunden fortzusetzen, darum sagt er: »Ja, ungefähr so weit wie nach Afrika.«
    Sie springt im Zimmer herum, kann ihr Glück kaum fassen, und Jakob macht eine gute Miene dazu, das Mädchen ist ja noch nie richtig verreist. Besonders schwer zu ertragen wird es, als sie ihm unvermittelt einen Kuß schenkt und ihn fragt, warum er sich nicht auch freut.
    »Weil ich nicht gerne verreise«, sagt er.
    »Du wirst schon sehen, wie schön es wird.«
    Er kommt zum Ende mit dem Rucksack, zwei Löffel obenauf, will ihn verschnüren, da legt ihm Lina die Hand auf den Arm und sagt: »Du hast das Buch vergessen.«
    »Was für ein Buch?«
    »Das von Afrika.«
    »Ach ja. Wo liegt es denn?«
    »Unter dem Kopfkissen. Ich hole es rasch!«
    Lina rennt hinaus, Jakob hört ihre lustige Stimme auf dem Flur und die Treppe hinauf: »Wir verreisen! Wir verreisen …«
    Nur aus Freude oder auch um den griesgrämigen Horowitz im Schutze Jakobs ein wenig zu ärgern.

    Dann fahren wir.
    In dem Waggon ist es sehr eng und stickig, die Juden hocken oder sitzen neben ihren fünf Kilogramm auf dem Boden, mindestens dreißig, meine ich. Das Schlafen in der Nacht, falls die Reise so lange dauert, wird ein Problem, denn hinlegen können sich alle auf einmal nicht, man wird es schichtweise tun müssen. Dunkel ist es auch, die wenigen schmalen Luken dicht unter dem Dach geben nur spärliches Licht, außerdem sind sie fast ständig besetzt. Gespräche sind kaum zu hören, die meisten sehen aus, als hätten sie über schrecklich wichtige und ernste Dinge nachzudenken, dabei könnte man sich unter dem Geräusch der rollenden Räder unbelauscht unterhalten, trotz der Enge, wenn man nur wollte.
    Ich sitze auf einem karierten Kopfkissenbezug, in dem mein ganzer Plunder steckt, und langweile mich, neben mir weint eine steinalte Frau, rücksichtsvoll leise. Die Tränen sind ihr schon längst ausgegangen, dennoch zieht sie von Zeit zu Zeit so gewaltig durch die Nase hoch, als wären ganze Ströme zurückzuhalten. Und ihr Mann, mit dem sie sich den Koffer teilt, blickt dabei jedesmal entschuldigend in die Runde, weil es ihm wohl peinlich ist, weil er zu verstehen geben will, daß sich die Sache seinem Einfluß entzieht.
    Links neben mir, wohin ich notgedrungen meine Aufmerksamkeit richte, hat Jakob einen Lukenplatz erobert, aber ich kann versichern,
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