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Jakob der Luegner

Jakob der Luegner

Titel: Jakob der Luegner
Autoren: Jurek Becker
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Stunden, denke ich, ist Jakob entschlossen. Er hängt die Decke vor das Fenster, schaltet das Licht ein, dann nimmt er ein Messer, zieht die Jacke aus und trennt die gelben Sterne von Brust und Rücken. Er tut das sehr sorgfältig, zupft auch die weißen Fädchen aus, damit sie später die berüchtigten Stellen nicht verraten. Als das erledigt ist, zieht Jakob die nun ungewohnt nackt erscheinende Jacke an. Seine Augen suchen das Zimmer nach Gegenständen ab, die für das Unternehmen eventuell gebraucht werden könnten, da ist natürlich die Zange, die steckt er in die Tasche. Weiter fällt ihm nichts auf, er löscht wieder das Licht und blickt ein letztes Mal aus dem Fenster.
    Auf die schwarze und verlassene Straße, längst ist acht vorbei und Ausgehverbot, wahrscheinlich schon Mitternacht, in der Ferne könnte er meinetwegen seinen Scheinwerfer erkennen, der pflichtversessen und ziellos über die Dächer streift.
    Weil meiner Willkür keine Grenzen gesetzt sind, lasse ich es eine kühle und sternenklare Nacht sein, das klingt nicht nur gefällig, das kommt auch meinem Ende zustatten, man wird sehen. Jakob geht demnach ohne Sterne und lange nach acht die Straße entlang, das heißt, er schleicht dicht an den Häuserwänden, versucht, einem Schatten zu gleichen, er hat ja nicht vor, sich das Leben nehmen zu lassen. Eine Straße und noch eine und noch eine, alle haben sie gemeinsam, daß sie auf kürzestem Weg zur Grenze führen.
    Dann die Grenze, ich habe für Jakob den denkbar günstigsten Ort ausgewählt, den alten Gemüsemarkt, einen gepflasterten kleinen Platz, über den quer ein Stacheldraht gezogen ist, die wirklichen Ausbruchsversuche gelangen oder scheiterten fast immer an dieser Stelle. Am rechten Rand des Platzes steht der Postenturm, dieser ohne Scheinwerfer, der Posten oben regt sich nicht, während Jakob ihn aus einem Hauseingang heraus beobachtet, auf der äußersten linken Seite. Die Entfernung mag hundertfünfzig Meter betragen, am ganzen Stacheldraht, der ohne Lücke um das Ghetto verläuft, findet sich keine zweite Stelle, die derartig weit von einem Türmchen entfernt ist. Nur hier haben sie soviel Platz gelassen, aus Sparsamkeit oder aus Gründen der Überschaubarkeit.
    Auf dem Turm geht es still wie auf einem Denkmal zu, daß Jakob schon anfängt zu hoffen, der Posten wäre eingeschlafen.
    Jakob blickt zum Himmel, wartet besonnen, bis eine der wenigen Wolken sich vor den hinderlichen Mond schiebt. Sie tut ihm endlich den Gefallen, Jakob nimmt seine Zange aus der Tasche und läuft los.
    Legen wir in diesem hochdramatischen Augenblick meines Endes eine kurze Pause ein, in der ich Gelegenheit habe zu gestehen, daß ich den Grund für Jakobs plötzliche Flucht nicht angeben kann. Oder anders, ich mache es mir nicht gar so leicht und behaupte: »Bei mir will er eben fliehen und basta«, ich bin wohl in der Lage, mehrere Gründe zu nennen, Gründe, die ich alle für denkbar halte. Ich weiß nur nicht, für welchen einzelnen ich mich entscheiden soll. Zum Beispiel, Jakob hat alle Hoffnung aufgegeben, daß das Ghetto befreit wird, solange Juden noch darin sind, und will folglich sein nacktes Leben retten. Oder, er flieht vor den eigenen Leuten, vor ihren Nachstellungen und Anfeindungen, vor ihrer Wißbegier auch, ein Versuch, sich vor dem Radio und seinen Folgen in Sicherheit zu bringen. Oder ein dritter Grund, für Jakob der ehrenwerteste, er hat die verwegene Absicht, im Laufe der nächsten Nacht in das Ghetto zurückzukehren, er will nur hinaus, um brauchbare Informationen zu beschaffen, die er dann seinem Radio in den Mund legen könnte.
    Das wären die wichtigsten Gründe, alle nicht von der Hand zu weisen, wie man zugeben muß, aber ich kann mir kein Herz fassen und Jakob auf einen von ihnen festlegen. Also biete ich sie zur Auswahl an, möge jeder sich den aussuchen, den er nach den eigenen Erfahrungen für den stichhaltigsten hält, vielleicht fallen dem einen oder anderen sogar noch einleuchtendere ein.
    Ich gebe nur zu bedenken, daß die meisten Dinge von Wichtigkeit, die jemals geschehen sind, mehr als nur einen Grund hatten.
    Jakob gelangt im Schutz der Wolke unbemerkt an den Stacheldraht. Er legt sich flach auf die Erde, der einfache Plan ist, unter der Sperre hindurchzukriechen. Was natürlich leichter geplant als getan ist, der unterste der vielen Drähte befindet sich nur zehn Zentimeter über dem Boden, aber das hatte man nicht anders erwartet, darum die vorsorgliche Zange. Die wird
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