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Jakob der Luegner

Jakob der Luegner

Titel: Jakob der Luegner
Autoren: Jurek Becker
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der gefräßigen Schlange. Der erste Mann tritt vor, öffnet den Kessel, wobei er sich regelmäßig die Finger verbrennt, und beginnt mit dem Austeilen. Die Pfeife steht stumm und mit fixen Augen daneben, daß es gerecht zugeht.
    An diesem blauen Tag bin ich der Austeiler. Ich weiß von nichts, ich erfahre immer alles zuletzt, die Sonne fällt mir auf den Wecker, ich bin wütend. Ich ärgere mich über die zusätzliche Arbeit, die verbrannten Finger tun weh, ich komme als letzter zum Essen. Ich klatsche ihnen die Kelle mit Suppe in ihre Schüsseln, sie ziehen ab damit, ich entdecke nichts Ungewohntes in ihren Gesichtern, bei keinem, aber ich achte ja auch nicht darauf. Ich sehe nicht einmal, wem ich gerade die Suppe gebe, ich sehe nur auf die Schüsseln.
    Jakob hat sein Essen gefaßt, wie sie sagen, er sieht sich nach Mischa um, der lange vor ihm in der Reihe gestanden hat.
    Mittag wäre so eine günstige Gelegenheit, ein ungestörtes Wörtchen zu zweit, eine kleine Berichtigung, die doch nichts am eigentlichen Sachverhalt ändert. Mischa ist nirgends zu entdecken, der Platz ist groß, man verläuft sich mit der Schüssel.
    Für langes Suchen ist die Pause zu kurz. Jakob setzt sich auf eine Kiste und ißt die heiße Suppe. Er ist auch nur ein Mensch, seine Gedanken bewegen sich weit weg von der Schüssel, was wird sein, und wie lange noch, und was danach, die Sonne scheint ihm eins, und niemand wirft Schatten. Da kommt Kowalski.
    Kowalski kommt.
    »Hier ist doch noch ein Plätzchen frei?« fragt Kowalski.
    Er setzt sich neben Jakob und beginnt zu löffeln. Kowalski ist himmlisch. Er hält sich für einen Fuchs und mit allen Wassern gewaschen, dabei kann sein Gesicht nichts verbergen, es ist geschwätzig. Wenn man ihn ein kleines bißchen kennt, weiß man genau, was mit ihm los ist, bevor er noch den Mund aufgemacht hat. Seine Worte sind immer nur die Bestätigung für längst gehegte Vermutungen, wenn man ihn nur ein kleines bißchen kennt. Auf dem Bahnhof kennt jeder Kowalski ein kleines bißchen. Und Jakob kennt ihn, seit sie zusammen zur Schule gegangen sind. Hier haben sie sich ein wenig aus den Augen verloren, in dieser finsteren Zeit, der Grund dafür ist leicht gesagt. Beide sind keine Riesen, eine Kiste wird nicht leichter, wenn der auf der anderen Seite ein alter Freund ist, so haben es die Umstände einfach mit sich gebracht. Und sonst gibt es so gut wie keine Gelegenheiten. Man hat miteinander zu tun, oder man hat nicht miteinander zu tun. Man hat kaum, und jetzt kommt Kowalski mit seiner Schüssel, sagt »hier ist doch noch ein Plätzchen frei«, setzt sich neben Jakob und ißt.
    Kowalski war Jakobs häufigster Gast. Nicht sein bester, sein häufigster. Tagtäglich gegen sieben ist die Ladenglocke gegangen, kein anderer als Kowalski ist gekommen, hat sich auf seinen Platz gesetzt und Puffer gegessen, daß einem schwarz vor den Augen werden konnte. Unter vier, fünf ist es nie abgegangen, und hinterher meist noch ein Gläschen unterderhand, denn Jakob hatte keine Lizenz für Schnaps.
    Jeder Wirt wäre über einen solchen Gast in Verzückung geraten, anders Jakob, denn Kowalski hat niemals bezahlt, nicht einen Groschen, kein einziges Mal. Nicht die gemeinsame Schule war der Grund für Jakobs Freigebigkeit, was wäre das schon für ein Grund, überhaupt keine Freigebigkeit. In einer dummen Stunde an einem angetrunkenen Abend haben sie ein Abkommen geschlossen. Kowalskis Friseurgeschäft lag nur ein paar Häuser weiter, sie haben sich ohnehin fast jeden Tag getroffen, und das Abkommen ist ihnen beiden vorteilhaft erschienen. Du umsonst bei mir, und ich umsonst bei dir.
    Später haben sie es beide bereut, aber Abkommen ist Abkommen, und schließlich kann ein Mann alleine einen Mann nicht ruinieren. Versucht haben sie es beide. In der ersten Zeit waren Puffer Kowalskis Leibgericht, das war wohl auch der Grund für seinen Vorschlag, aber das hat sich bald geändert.
    Mit der Zeit hingen sie ihm zum Hals heraus, er hat die vier bloß noch gegessen, weil Jakob sie ihm aus alter Gewohnheit wortlos hingestellt hat, viel wichtiger war ihm inzwischen das Gläschen hinterher.
    Auf der anderen Seite hat Jakob anfänglich unter der unabänderlichen Tatsache gelitten, daß man zwar jeden Tag Puffer essen kann, nicht aber sich die Haare schneiden lassen.
    Nach längerem Nachdenken ist er auf das Rasieren gekommen. Sogar seinen spärlich wachsenden Kinnbart hat er geopfert, wenn auch mit schlechtem Gewissen. Seine größte
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