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Jäger der Nacht

Jäger der Nacht

Titel: Jäger der Nacht
Autoren: Wallace Hamilton
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«Und wie muß ich’s nun anstellen?»
    «Mensch, du bist doch wirklich behämmert! Halt’s dir über Nase und Mund, und dann atme tief ein. Hast du’s wirklich noch nie gemacht?»
    «Nein.»
    Dennis kicherte wieder. «Fang an.»
    Als Kevin sich die Tüte vors Gesicht hielt, haute ihn der Geruch fast um. Er schnüffelte, hustete und würgte.
    «Nimm’s nicht tragisch. Du gewöhnst dich dran.»
    Kevin nahm die Tüte vom Gesicht. «Wie kannst du diesen Scheiß bloß einatmen?»
    «Das ist kein Scheiß. Das ist das Beste.»
    Kevin zögerte. Aber dann dachte er an den Jungen in der Kutsche und zog sich langsam die Tüte übers Gesicht. Vorsichtig schnüffelte er etwas und fühlte sich sofort benommen. Er setzte sich ans Fußende von Dennis’ Bett und starrte auf die Lichtstrahlen, die von der Straße durchs Fenster am anderen Ende des Raumes in die Kammer drangen. Das Licht schien leicht zu zittern. Er inhalierte wieder, tiefer als beim ersten Mal. Seine Arme und Beine wurden ihm plötzlich körperlich bewußt; schwer wie von einem Magneten angezogen geriet die kleinste Bewegung zur schier unüberwindlichen Anstrengung. Das Bett unter ihm schien zu schwanken. «Mir dreht’s sich, Dennis.»
    «Das liegt nicht an mir.» Ein Kichern. «Jetzt hat’s dich gepackt.»
    Tief sog Kevin die Dämpfe ein, diesmal direkt schon gierig. Er hörte das Klopfen seines Herzens. Der Pulsschlag hämmerte in seinem Kopf. Er glaubte, sein Haar wachsen zu fühlen, als ob es von seinem pochenden Blut aus dem Schädel gehämmert würde. Die Wände der Kammer schienen sich wie in Zeitlupe zu dehnen und wieder zusammenzudrücken gleich einem Blasebalg. Und er fühlte sich, als ob er tief in der Lunge eines riesigen Tieres stecken würde.
    Er versuchte wieder an den Jungen in der Kutsche zu denken. Aber die Vorstellung an ihn verschwamm, weiter und weiter, bis sie tief im Bild hinter dem mächtigen Baum verschwand. Er wollte aufstehen, kam aber nur halb hoch. Der Raum drehte sich um ihn, und er fiel zurück aufs Bett.
    Wieder hielt er sich die Tüte vors Gesicht und atmete tief ein.
    «Noch mehr?» fragte Dennis.
    «Ja... ja... mehr... gib mir mehr...»

2. KAPITEL
     
    Beim Englischunterricht war Gino Scala Kevins Banknachbar. Mit dem Buchstabieren hatte Gino seine liebe Not. In seinen Aufsätzen schrieb er Äpfel mit ‹E›, Vater mit ‹F›, und ‹Silhouette› würde er erst gar nicht zu buchstabieren versuchen. Jedes Mal, wenn er mit der Rechtschreibung kämpfte, stieß er Kevin heimlich mit dem Ellbogen an, und Kevin half ihm dann aus der Klemme.
    Gino war beeindruckt. «Du weißt ‘ne ganze Menge, was?»
    Kevin zuckte mit den Schultern. «Draußen in Laureldale, da hab’ ich immer viel gelesen.»
    «Ja, und... und du hast es auch alles behalten.»
    «Was ich gelesen habe.» Kevin zögerte. «Aber hier in der Stadt denke ich manchmal, daß ich überhaupt nichts weiß.»
    «Wie meinste das?»
    «Das ist hier alles so fremd.»
    Gino sah ihn mit großen, dunklen Augen an. «Da kann ich dir reichlich Tips geben.»
    Gino wohnte weiter unten in der Burkett Street in einem Reihenhaus, ähnlich dem von Kevin, mit einer Mutter, die über 200 Pfund wog und schnaufte, und mit drei jüngeren Schwestern. Aber Gino lebte im Keller, und er jagte seinen jüngeren Schwestern Angst ein, indem er ihnen sagte, daß riesige Fledermäuse im Kellergeschoß wären. Er hatte den Raum ganz für sich allein.
    Eines Tages Mitte März war der Schnee geschmolzen, und in der Luft lag ein Hauch von Frühling. Gino lud ihn in seinen Zufluchtsort ein. Es gab da einen Eingang mit einer Eisentür, auf einer Ebene mit dem Bürgersteig und versperrt mit einem großen Vorhängeschloß. Der Schlüssel zu diesem Schloß war Ginos geheiligtster Besitz, denn er konnte ein und ausgehen, ohne von seiner Mutter oder seinen Schwestern gesehen zu werden.
    Gino schloß auf und führte Kevin ins Stockfinstere nach unten. Gino knipste eine schwache Deckenlampe an, und Kevin sah einen langen Raum, schmal wie das Haus darüber, mit einem Heißwasserboiler und Möbeln am anderen Ende. Die Decke war niedrig. Die Wände bestanden aus unverputztem Mauerwerk, das glimmernd funkelte wie die Mauer des Friedhofs. Der Raum sah so alt aus wie die Stadt und roch dumpf, mit einer Spur von Knoblauch.
    In einer Ecke des Raums schmiß sich Gino auf einen Stapel alter
    Matratzen und schaltete ein Transistorradio ein. «Alter, setz dich.» Kevin machte es sich, Gino zugewandt, im Schneidersitz auf
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