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Jäger der Nacht

Jäger der Nacht

Titel: Jäger der Nacht
Autoren: Wallace Hamilton
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Sein Kinn wurde männlicher, ausgeprägter. Er nahm an, daß er sich nun zwei oder dreimal die Woche rasieren mußte. Aber da war dieser jungenhafte Glanz in seinen Augen, während er aus dem Fenster blickte.
    Amory widerstand dem Drang, den jungen Mann mit Fragen zu bombardieren, die von einem Anthropologen hätten kommen können; er wußte, daß gute Anthropologen selten direkte Fragen stellten. Sie beobachteten und hörten zu.
    Bruce kam mit Mixgetränken für Amory und sich und einer Flasche Bier für Kevin aus der Küche. Sie machten es sich auf der Couch bequem, während Kevin in einem Sessel Platz nahm. Amory fiel auf, daß Bruce wie immer untertreibend leger gekleidet war – Cashmere‐Pullover, graue Hosen und bequeme Slipper. Kevin hingegen trug derbe Laufschuhe, Jeans und ein Flanellhemd. In der Kleidung machte keine Seite der anderen Zugeständnisse. Kevins kastanienbraunes Haar war nicht so lang, wie er es in Erinnerung hatte, aber es war auch nicht so kurz wie das von Bruce.
    Das Wohnzimmer war nicht so groß, wie er zuerst gedacht hatte. Die weißen Wände hatten zusammen mit der sparsamen Möblierung die Illusion von Großzügigkeit hervorgerufen. Er schätzte es kleiner ein als das in der vollgepackten Wohnung im Gallatin House, aber es sah beträchtlich geräumiger aus. Von seinem Platz auf der Couch konnte Amory durch die offene Tür ins Schlafzimmer sehen. Ein niedriges Doppelbett war mit einer leuchtend roten Tagesdecke zugedeckt.
    Der neue Bruce. Adrett, ungezwungen und zum Liebhaben.
    Aber auch Kevins Anwesenheit machte sich bemerkbar. An der Wand beim Fenster stand ein schlicht‐eleganter Schreibtisch aus Holz. Auf dem Schreibtisch eine Schreibmaschine und Unterlagen. Über dem Schreibtisch zwei Borde voll beeindruckend aussehender Schulbücher. Aber der verblüffendste Beweis von Kevins Gegenwart war direkt vor ihm unter der Glasplatte des Couchtisches. Amory war fasziniert von diesem Überblick über die amerikanische Geschichte en miniature – Kevins Spielzeugsammlung. Sie war mit keiner anderen Spielzeugsammlung vergleichbar, die er je gesehen hatte. Eine Lokomotive mit rauchendem Schlot. Spielzeugsoldaten im Gewand der Revolution. Ein Sparschwein, in rot, weiß und blau angemalt. Ein Planwagen. Ein Kanalfrachter mit einer Ladung Kohle. Ein Einspänner mit einem Pferd davor.
    Das Spielzeug war aus Gußeisen. Es war alt. Aber die Farben waren immer noch leuchtend und von knalliger Vielfalt. Und doch schien jeder Gegenstand Mittelpunkt einer ihm eigenen Welt zu sein und die Szenerie um sich herum lebendig werden zu lassen. Der Planwagen schien durch die Prärie zu fahren. Die Lokomotive schnaufte durch die Gebirgsschluchten der Appalachen. Ein geisterhafter Banjospieler fuhr den Einspänner. Die Revolutionssoldaten stellte er sich an den Ufern des Champlain‐Sees vor.
    Amory bemerkte, daß ihn sowohl Bruce als auch Kevin beobachteten, während er sich aufmerksam die Stücke betrachtete. Bruce sagte: «Kevin hat den Kanalfrachter irgendwo aufgestöbert, und danach war er nicht mehr zu halten.»
    «Es ist eine großartige Sammlung», sagte Amory.
    Kevin lächelte und öffnete eine Tür zu dem Fach an der Seite des Couchtisches. «Möchtest du einige der Stücke näher sehen?»
    «Klar.»
    Kevin langte mit einer Hand in das Fach unter der Glasplatte. Die Hand schien wie vom Körper losgelöst und, in Anbetracht von Kevins Jugend, erstaunlich männlich. «Welches?»
    Amory zögerte einen Moment. «Den Kanalfrachter.»
    Kevin holte das Stück aus schwerem Gußeisen heraus und gab es ihm. Während Amory es untersuchte, erzählte ihm Kevin, wie hoch seine Nutzlast war, wie er beund entladen wurde, wie er angetrieben wurde und bemannt war, wo und wann er benutzt wurde. Trotz der Fülle der Informationen schien er sie nicht einfach nur runterzurasseln, sondern, unheimlicherweise, aus seiner eigenen Erfahrung zu berichten.
    Bruce saß auf der Couch, nippte an seinem Drink und sagte kein Wort.
    Als Amory und Kevin schließlich ihren Couchtisch‐Geschichtsunterricht beendet hatten, wandte sich Amory an Bruce und ließ sich zu einer neugierigen Frage hinreißen: «Was ist mit den Möbeln geschehen, die du hattest?» Er erwartete fast, daß Bruce sagen würde, er hätte sie eingelagert; sie waren so sehr ein Teil seines Familienerbes, seiner selbst, seines ganzen Lebensstils gewesen.
    «Ich hab’ das Zeug verkauft.» Pause. «Ich war dabei, poliertes Holz für meinen Sarg aufzubewahren.» Wieder
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