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Ivo Andric

Ivo Andric

Titel: Ivo Andric
Autoren: Die Brücke über die Drina
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Fluß
überbrücken und ihm ermöglichen, schneller und müheloser zu seinem Ziel zu
gelangen. Denn ohne Zweifel haben sich die Menschen, seit sie auf Erden wandeln
und hierher reisen und Hindernisse überwinden, schon immer vorgestellt, wie es
wäre, wenn an dieser Stelle ein Übergang geschaffen würde, so wie alle
Reisenden immer von einem guten Weg, sicheren Reisegefährten und einer warmen
Herberge träumen. Nur trägt nicht der Wunsch eines jeden Früchte, noch ist jede
Vorstellung von einem Willen und einer Kraft begleitet, die die Wünsche verwirklicht.
    Das erste Bild einer Brücke, dem es
bestimmt war, verwirklicht zu werden, leuchtete, natürlich noch völlig
unbestimmt und nebelhaft, in der Phantasie eines zehnjährigen Jungen aus dem
benachbarten Dorfe Sokolowitschi an einem Morgen des Jahres 1516 auf, als man
ihn auf dem Wege von seinem Dorf zum fernen, strahlenden und fruchtbaren
Stambul dort vorüber führte.
    Damals strömte reißend diese gleiche
Drina, ein grüner und brausender Bergfluß, »der sich häufig trübt« – wie das
Volkslied sagt –, dort zwischen ihren nackten und kahlen, steinigen oder
sandigen Ufern dahin. Die Stadt bestand auch damals, aber mit anderem Aussehen
und anderen Maßstäben. Auf dem rechten Flußufer, auf dem Gipfel einer steilen
Anhöhe, dort, wo heute Ruinen liegen, erhob sich die wohlbewahrte alte Burg,
eine stark gegliederte Befestigung noch aus der Blütezeit der bosnischen
Könige, mit Türmen, Kasematten und Mauern, das Werk eines der mächtigen Fürsten
aus dem Hause Pawlowitsch. An den Hängen unterhalb dieser Burg und unter ihrem
Schutz lagen die christlichen Siedlungen Mejdan und Bikawatz und der kürzlich
türkisch gewordene Weiler Duschtsche. Unten in der Ebene, zwischen Drina und
Rsaw, wo sich später die eigentliche Stadt entwickelte, lagen nur die
Stadtäcker, von einem Weg durchschnitten, an dem das alte hölzerne Rasthaus,
der Chan, und einige Wassermühlen und Hütten lagen.
    Dort, wo die Drina die Landstraße
durchschneidet, war die berühmte »Fähre von Wischegrad«. Das war eine schwarze,
alte Fähre und auf ihr ein mürrischer, langsamer Fährmann namens Jamak, den
herauszurufen, wenn er wachte, schwerer war, als einen anderen auf tiefstem
Schlaf zu wecken. Er war ein Mann von hünenhaftem Wuchs und ungewöhnlicher
Kraft, aber er war heruntergekommen in vielen Kriegen, in denen er sich hervorgetan
hatte. Er besaß nur ein Auge, ein Ohr und ein Bein; das andere war aus Holz.
So, ohne Gruß und ohne ein Lächeln, beförderte er Waren und Reisende, launenhaft
und eigenwillig, langsam und unregelmäßig, aber ehrlich und sicher, so daß
seine Vertrauenswürdigkeit und Ehrlichkeit genauso weit bekannt waren wie seine
Langsamkeit und Eigenwilligkeit. Mit den Reisenden, die er beförderte, wollte
er weder Gespräche noch Berührung haben. Die kupfernen Groschen, die sie
bezahlten, warfen die Leute auf den Boden der schwarzen Fähre, wo sie den
ganzen Tag über in Sand und Wasser lagen, und erst am Abend sammelte sie der
Fährmann nachlässig mit einem hölzernen Napf ein, mit dem er das Wasser aus dem
Kahn schöpfte, und trug sie in seine Hütte am Ufer.
    Die Fähre arbeitete nur, wenn
Strömung und Höhe des Flusses normal oder nur wenig darüber waren, aber sobald
sich der Fluß trübte und über eine gewisse Grenze stieg, zog Jamak seine plumpe
Fähre ein, band sie in einer Ausbuchtung fest, und so wurde die Drina
unüberquerbar wie das größte Meer. Dann wurde Jamak auch auf seinem gesunden
Ohr taub, oder er ging einfach hinter die Burg, um seinen Acker anzusehen. Dann
konnte man den ganzen Tag über die Reisenden am anderen Ufer sehen, die durch
Bosnien kamen und wie verzweifelt am steinigen Ufer standen, von wo sie,
durchfroren und verregnet, vergeblich nach Fähre und Fährmann Ausschau hielten
und von Zeit zu Zeit über den trüben, wütenden Fluß langgezogene Rufe
erschallen ließen:
    »Hooooo, Jaamaaak!«
    Niemand antwortete und niemand
zeigte sich, ehe nicht das Wasser genügend gefallen war. Den Zeitpunkt aber
bestimmte Jamak selbst, finster, unerbittlich, ohne Widerrede und Erklärung.
    Die Stadt, damals noch eine
gedrängte, kleine Siedlung, hielt sich auf dem rechten Drinaufer, oben am Hang
des steilen Hügels, gerade unter den Ruinen der einstigen Burg, denn damals
bestand die Stadt noch nicht in dem Umfang und in der Form, die sie später
erhielt, als die Brücke gebaut war und Verkehr und Handel aufblühten.
    An jenem Novembertag
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