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Ivo Andric

Ivo Andric

Titel: Ivo Andric
Autoren: Die Brücke über die Drina
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Erde, und die Pferde
waren, wie auch die Helden, von riesenhaftem Wuchs. Nur sind es für die christlichen
Kinder die Hufspuren des »Schrecken«, die geblieben sind seit der Zeit, als
Kraljewitsch Marko, der oben in der alten Burg im Turm schmachtete, entfloh,
den Hügel hinabritt und über die Drina sprang,über die es damals keine Brücke
gab. Und die türkischen 2 Kinder wissen, daß es nicht der Kraljewitsch Marko war und auch gar nicht sein
konnte (denn woher sollte wohl ein Ungläubiger und Hundesohn solche Kräfte und
ein solches Pferd haben), nein, das war Alija Dscherseles auf seiner
geflügelten Araberstute, der bekanntlich Fähren und Fährleute verachtete und
Flüsse wie Bächlein übersprang. Sie streiten darüber auch gar nicht, so sehr
sind die einen wie die anderen von der Richtigkeit ihres Glaubens überzeugt.
Und es gibt kein Beispiel, daß es jemals irgendwem gelungen wäre, einem
anderen seinen Glauben zu nehmen, oder daß einer seine Meinung geändert hätte.
    In diesen Vertiefungen, die rund und
tief sind wie Schüsseln, hält sich das Wasser noch lange nach dem Regen wie in
steinernen Gefäßen. Diese Gruben, mit lauwarmem Regenwasser angefüllt, nennen
die Kinder Brunnen und halten, die einen wie die anderen, ohne Unterschied des
Glaubens, in ihnen kleine Fische, Gründlinge und Stichlinge, die sie mit der
Angel fangen.
    Und am linken Ufer liegt, gleich oberhalb
des Weges, ein ziemlich großer Erdhügel, jedoch aus irgendeiner festeren Erde,
grau und versteinert. Auf ihm wächst und blüht nichts außer einem harten,
stacheligen Gras, das wie stählerner Draht ist. Dieser Erdhügel ist Ziel und
Grenze aller kindlichen Spiele um die Brücke. Früher hieß dieser Ort Radisaws
Grab. Und es geht die Sage, daß das irgendein serbischer Held, ein gewaltiger
Mann war. Und als der Wesir Mechmed Pascha es unternahm, eine Brücke über die
Drina zu bauen, und Leute entsandte, da beugten sich alle und leisteten
Frondienste, nur dieser Radisaw erhob sich, wiegelte das Volk auf und ließ dem
Wesir sagen, er solle von diesem Unterfangen ablassen, denn es würde ihm nicht
so leicht gelingen, eine Brücke über die Drina zu bauen. Und nicht wenig Mühe
kostete es den Wesir, ehe er den Radisaw überwand, denn das war ein gewaltiger
Held unter den Menschen, kein Gewehr und kein Säbel konnten ihn verwunden,
kein Strick und keine Kette ihn binden, er zerriß sie wie dünne Fäden. So einen
starken Talisman trug er bei sich. Und wer weiß, was noch geschehen wäre, ob
der Wesir jemals die Brücke gebaut, wenn sich nicht unter den Männern des
Wesirs einer gefunden hätte, der weise und geschickt war und Radisaws Diener
bestach und ausfragte. So gelang es ihnen, den Radisaw im Schlaf zu überraschen
und mit einer seidenen Schnur zu erdrosseln, denn nur gegen Seide wirkte sein
Talisman nicht. Unsere Frauen glauben, daß es eine Nacht im Jahre gibt, in der
man sehen kann, wie ein starkes weißes Licht geradewegs vom Himmel auf diesen
Hügel fällt. Und das ist irgendwann im Herbst, in der Zeit zwischen Mariä
Geburt und Mariä Himmelfahrt. Aber den Kindern, die halb gläubig, halb
ungläubig aufblieben, um an den Fenstern zu wachen und zu Radisaws Grab
hinüberzustarren, ist es nie gelungen, das himmlische Feuer zu sehen, denn
immer überwältigte sie vorher der Schlaf. Dafür haben wiederum Reisende, denen
gar nichts daran liegt, irgendeinen weißen Schein auf dem Hügel oberhalb der
Brücke gesehen, wenn sie des Nachts in die Stadt zurückkehrten.
    Die Türken in der Stadt dagegen
erzählen von alters her, daß dort ein Derwisch namens Schechit Turcheni als
Märtyrer gefallen sei, der ein großer Held war und hier den Übergang über die
Drina gegen ein Ungläubigenheer verteidigte. Und daß hier weder ein Grabstein
noch ein Mausoleum steht, das habe der Derwisch so gewünscht, der ohne Zeichen
und Gedenksteine begraben sein wollte, damit niemand wisse, daß er hier liege.
Wenn dann je wieder ein Ungläubigenheer herankäme, dann werde er aus diesem
Grabhügel aufstehen und es aufhalten, wie er es damals getan habe, so daß über
die Wischegrader Brücke hinaus niemand kommen könne. Aber dafür erleuchte manchmal
der Himmel selbst das Grab mit seinem Licht.
    So verläuft das Leben der Stadtkinder
unter der Brücke und um sie herum in ziellosem Spiel oder kindlichen
Phantasien. Aber mit den ersten Jahren der Reife verlegt es sich auf die
Brücke, oder besser auf die Kapija, wo die jugendliche Phantasie neue
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