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Ivo Andric

Ivo Andric

Titel: Ivo Andric
Autoren: Die Brücke über die Drina
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ewigen Spiel des Lichtes auf den Bergen und den Wolken am Himmel die
gleichen, aber immer neu verwickelten Fäden unserer Wischegrader Geschicke
entwirrt. Irgend jemand hat vor langen Jahren behauptet (es war zwar ein
Fremder, und er sprach im Scherz), daß diese Kapija einen Einfluß auf das
Schicksal der Stadt und selbst auf den Charakter ihrer Bürger gehabt hätte. In
diesem endlosen Sitzen, so behauptete der Fremde, müsse man den Schlüssel für
die Neigung vieler Städter zur Nachdenklichkeit und Träumerei und einen der
Hauptgründe jener melancholischen Sorglosigkeit suchen, für die die Einwohner
der Stadt bekannt wären. Jedenfalls läßt es sich nicht leugnen, daß die
Wischegrader von alters her im Vergleich zu den Bewohnern anderer Orte als
leichtsinnige Leute gelten, dem Genuß zugeneigt und leicht im Geldausgeben.
Ihre Stadt liegt an günstiger Stelle, die umliegenden Dörfer sind fruchtbar
und reich, und das Geld fließt in der Tat reichlich durch Wischegrad, aber es
hält sich nicht lange dort auf. Findet sich wirklich ein sparsamer und
häuslicher Bürger ohne jegliche Leidenschaft, dann ist es gewöhnlich ein Zugewanderter;
aber das Wischegrader Wasser und die Luft sind so beschaffen, daß schon seine
Kinder mit offenen Händen und gespreizten Fingern geboren werden und, der
Ansteckung allgemeiner Verschwendung und Sorglosigkeit unterliegend, nach der
Devise leben: »Der neue Tag bringt einem jeden, was ihm das Schicksal an
irdischen Gütern beschieden hat.«
    Man erzählt, daß der Graue Nowak 4 ,
als er hinfällig wurde, sich zurückziehen und das Hajdukenleben in der Romanija
aufgeben mußte, zu Jung-Grujitza, der sein Nachfolger werden sollte, also
sprach:
    »Wenn du im Hinterland liegst, sieh
dir den Reisenden gut an, der des Weges kommt. Siehst du ihn stolz reiten im
roten Übergewand, mit silbernem Brustharnisch und weißen Gamaschen, dann ist
er aus Fotscha. Schlage gleich zu, denn der hat genug bei sich, und auch sein
Ranzen ist voll. Siehst du einen ärmlich gekleideten Reisenden, den Kopf
gesenkt, hingekauert auf dem Pferd, als ginge er auf Bettelfahrt, schlage ruhig
zu, der ist aus Rogatschitza. Die sind alle Knicker und Duckmäuser, stecken
aber voll Geld wie der Granatapfel voller Kerne. Siehst du aber einen Narren:
die Beine auf dem Sattel gekreuzt, der die Gitarre schlägt und aus vollem
Halse singt, dann schlage nicht zu, mach dir nicht unnütz die Hände schmutzig,
laß den Flederwisch laufen, der ist aus Wischegrad, und der hat nichts, denn
bei denen bleibt das Geld nicht.«
    Dies alles würde nur die obige
Meinung jenes Fremden bestärken. Aber dennoch ist es schwer, mit Sicherheit zu
sagen, in welchem Maße diese Meinung richtig ist: Wie bei so vielen anderen
Dingen, ist es auch hier nicht leicht zu bestimmen, was Ursache und was Wirkung
ist. Hat die Kapija aus den Städtern das gemacht, was sie sind, oder wurde sie
vielmehr in ihrem Geiste und ihrer Lebensauffassung erdacht und nach ihnen und
ihren Bedürfnissen und Gewohnheiten gebaut? Eine überflüssige und müßige
Frage. Es gibt keine zufälligen Bauwerke, losgelöst von der menschlichen
Gesellschaft, aus der ihre Bedürfnisse, Wünsche und Auffassungen
hervorgesprossen sind, so wie es in der Baukunst keine willkürlichen Linien und
unbegründeten Formen gibt. Das Werden und Leben jedes großen, schönen und
nützlichen Bauwerks wie auch sein Verhältnis zur Siedlung, in der es errichtet
wurde, trägt oft verwickelte und geheimnisvolle Dramen und Geschichten in sich.
Eines indessen ist sicher: zwischen dem Leben der Menschen in der Stadt und dieser Brücke besteht eine innige,
jahrhundertealte Bindung. Ihre Geschicke sind so miteinander verflochten, daß
sie sich getrennt nicht vorstellen lassen und nicht ausgedrückt werden können.
Daher ist die Erzählung vom Werden und Geschick der Brücke zu gleicher Zeit
auch eine Erzählung vorn Leben der Stadt und ihrer Menschen von Geschlecht zu
Geschlecht, ebenso wie sich durch alle Erzählungen über die Stadt die Linie der
steinernen Brücke hindurchzieht, der Brücke auf elf Bögen, mit der Kapija als
Krone in der Mitte.

2
    Jetzt verlohnt es sich, daß wir zu den
Zeiten zurückkehren, als an diesem Ort an eine Brücke noch nicht zu denken war,
erst recht nicht an eine solche, wie es diese ist.
    Vielleicht hat auch in jenen alten
Zeiten mancher Reisende, wenn er müde und verregnet hier vorüber kam,
gewünscht, es möchte irgendein Wunder diesen breiten und tosenden
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