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Ivo Andric

Ivo Andric

Titel: Ivo Andric
Autoren: Die Brücke über die Drina
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traf am linken
Ufer des Flusses ein langer Zug beladener Pferde ein und machte halt, um dort
zu übernachten. Der Janitscharen-Aga mit seiner bewaffneten Begleitung kehrte
nach Konstantinopel zurück, nachdem er in den Dörfern Ostbosniens die
festgesetzte Zahl christlicher Kinder für den Blutzoll, den Adschami-Oglan,
eingesammelt hatte.
    Es war schon das sechste Jahr seit
der letzten Einziehung dieser Blutabgabe verflossen, daher war diesmal die
Auswahl leicht und reich gewesen; ohne Mühe hatte man die notwendige Anzahl
gesunder, frischer und stattlicher männlicher Kinder im Alter zwischen dem
zehnten und fünfzehnten Lebensjahr gefunden, wenn auch viele Eltern die Kinder
im Wald verbargen, sie
lehrten, sich als geistesschwach oder hinkend zu verstellen oder sie in Lumpen
kleideten und im Schmutz verkommen ließen, nur um der Wahl des Aga zu
entgehen. Einige hatten sogar dem eigenen Kind einen Finger abgeschnitten und
es so verstümmelt.
    Die ausgewählten Jungen wurden auf
kleinen bosnischen Pferden in langem Zuge weitergeschafft. Am Pferd hingen zwei
geflochtene Körbe, wie für Obst, auf jeder Seite einer, und in jeden Korb wurde
ein Junge gesetzt und mit ihm sein kleines Bündel und ein Fleischkuchen, das
letzte, was er aus dem Vaterhause mitnahm. Aus diesen Körben, die gleichmäßig
schwankten und knarrten, schauten die frischen und verschüchterten Gesichter
der entführten Jungen heraus. Einige schauten ruhig über den Rücken des Pferdes
solange wie möglich nach dem Heimatort aus, einige weinten und aßen zu gleicher
Zeit, und einige schliefen, den Kopf an den Packsattel gelehnt.
    In einigem Abstand von den letzten
Pferden gingen in dieser ungewöhnlichen Karawane, zerstreut und atemlos
keuchend, viele Eltern oder Anverwandte dieser Jungen, die man für immer
fortführte, damit sie in einer fremden Welt beschnitten, zu Türken gemacht
würden und, nachdem sie ihren Glauben und ihre Herkunft vergessen, ihr Leben in
den Janitscharenabteilungen oder in irgendeinem anderen hohen Dienst im Türkischen
Reich verbringen. Es waren größtenteils Frauen, meist Mütter, Großmütter und
Schwestern der geraubten Jungen. Wenn sie sich zu sehr näherten, wurden sie von
den Reitern des Aga, die ihre Pferde unter lautem Fluchen auf sie zutrieben,
mit Peitschenhieben auseinandergejagt. Dann zerstreuten sie sich und
versteckten sich im Walde am Wegrand, aber kurz danach sammelten sie sich doch
wieder hinter dem Zuge und mühten sich, mit tränenerfüllten Augen über dem
Korbrand den Kopf des Kindes zu erspähen, das man ihnen entführte. Besonders
hartnäckig und nicht aufzuhalten waren die Mütter. Sie hasteten, ohne darauf zu
achten, wohin sie traten oder wo sie standen, mit entblößten Brüsten, zerzaust,
alles um sich vergessend, und weinten und klagten wie um einen Toten, andere
schrien und jammerten, als zerschnitten Geburtswehen ihren Schoß, und, blind
vor Tränen, liefen sie geradewegs in die Peitschen der Reiter hinein und
antworteten auf jeden Peitschenschlag mit der sinnlosen Frage: »Wohin führt
ihr ihn? Wohin entführt ihr ihn mir?« Einige versuchten, ihr Kind selbst
anzurufen, um ihm noch etwas von sich mitzugeben, einen letzten Rat oder eine
letzte Ermahnung für den Weg – soviel zwei Worte zu sagen vermögen.
    »Rade, mein Junge, vergiß deine
Mutter nicht...«
    »Ilija! Ilija! Ilija!« rief eine
andere Frau, verzweifelt mit ihrem Blick den bekannten, lieben Kopf suchend,
und wiederholte das unaufhörlich, als wollte sie dem Kind diesen Namen fest
einprägen, den man ihm doch schon in einigen Tagen für immer abnehmen würde.
    Aber der Weg ist lang, die Erde
hart, der Körper schwach und die Osmanen mächtig und unbarmherzig. Nach und
nach blieben die Frauen zurück und, ermüdet vom Laufen, vertrieben von
Schlägen, gab eine nach der anderen ihr aussichtsloses Mühen auf. Hier an der
Wischegrader Fähre mußten auch die Hartnäckigsten haltmachen, denn auf die
Fähre ließ man sie nicht, und über das Wasser gab es keinen Weg. Hier konnten
sie ruhig am Ufer sitzen und weinen, denn niemand vertrieb sie mehr. Dort
warteten sie, wie versteinert und unempfindlich gegen Hunger, Durst und Kälte,
bis sie am anderen Ufer noch einmal den langgestreckten Zug der Pferde und
Reiter erspähten, wie er sich in Richtung auf Dobrun entlangwand, und bis sie
in ihm noch einmal ihr eigenes Kind erahnten, das für immer aus ihren Augen
entschwand.
    An jenem Novembertage blickte in
einem dieser zahlreichen Körbe
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