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Ismael

Ismael

Titel: Ismael
Autoren: Daniel Quinn
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entgegensehen kannst.«
    »Nein, überhaupt nicht. Du kennst mich nicht gut genug. Es geht mir immer so - zuerst sage ich: >Nein, nein, unmöglich, wirklich vollkommen unmöglich <, und schließlich tue ich es doch.«
    10
    »Eine Kleinigkeit habe ich noch vergessen«, sagte Ismael und ließ einen langen, rasselnden Seufzer ertönen, als ob es ihm leid täte, daß ihm das eingefallen sei.
    Ich wartete stumm.
    »Einer meiner Schüler war ein ehemaliger Häftling. Bewaffneter Raubüberfall. Habe ich dir davon erzählt?«
    Ich verneinte.
    »Die Zusammenarbeit mit ihm hat mir mehr gebracht als ihm, fürchte ich. Vor allem habe ich von ihm gelernt, daß die Gefängnisinsassen anders als in den Filmen über Gefängnisse keineswegs alle gleich sind. Es gibt unter ihnen wie in der Welt draußen Reiche und Arme, Starke und Schwache. Und den Reichen und Starken geht es im Gefängnis verhältnismäßig gut - natürlich nicht so gut wie in der Außenwelt, aber doch viel besser als den Armen und Schwachen. Sie können fast alles haben, was sie wollen, Drogen, Essen, Sex und alles Mögliche.«
    Ich zog die Augenbrauen hoch.
    Ismael nickte. »Du willst wissen, was das mit unserem Thema zu tun hat. Sehr viel: Die Welt der Nehmer ist ein einziges großes Gefängnis, und von einer Handvoll über die ganze Welt verstreuten Lassern abgesehen, befindet sich heute die ganze Menschheit in diesem Gefängnis. Im letzten Jahrhundert wurden die Völker der Lasser in Nordamerika vor die Wahl gestellt: Ausrottung oder Gefängnis. Viele wählten das Gefängnis, aber nur wenige konnten sich an das Gefängnisleben gewöhnen.«
    »Stimmt.«
    Ismael musterte mich mit tränenden Augen. »Natürlich braucht ein gut funktionierendes Gefängnis auch eine Gefängnisindustrie. Du weißt sicher warum.«
    »Ja ... um die Gefangenen zu beschäftigen wahrscheinlich. Um sie von der Langeweile und Leere ihres Lebens abzulenken.«
    »Ja. Weißt du, was ihr tut, um euch abzulenken?«
    »Du meinst, in unserem Gefängnis? Spontan fällt mir nichts ein. Wahrscheinlich ist es wieder ganz banal.«
    »So ist es.«
    Ich überlegte. »Wir zerstören die Welt.«
    Ismael nickte. »Volltreffer beim ersten Versuch.«
    11
    »Zwischen den Insassen eurer Strafgefängnisse und eures kulturellen Gefängnisses besteht ein wichtiger Unterschied: Die Verbrecher wissen, daß die Verteilung von Reichtum und Armut im Gefängnis nichts mit Gerechtigkeit zu tun hat.«
    Ich sah Ismael eine Zeitlang verständnislos an, dann bat ich ihn, das zu erklären.
    »Welche Insassen haben in eurem kulturellen Gefängnis die Macht?«
    »Ach so«, sagte ich. »Die männlichen Insassen. Und davon wiederum besonders die Weißen.«
    »Richtig. Aber denk daran, daß diese weißen, männlichen Insassen Gefangene sind und keine Wärter. Sie mögen noch soviel Macht und Privilegien haben und die anderen Insassen noch so sehr schikanieren, keiner von ihnen hat einen Schlüssel, mit dem er das Gefängnistor aufschließen kann.«
    »Das stimmt. Viele Menschen können tun, was ich nicht kann, aber sie kommen genau so wenig aus dem Gefängnis heraus wie ich. Aber was hat das mit Gerechtigkeit zu tun?«
    »Die Gerechtigkeit verlangt, daß nicht die weißen Männer im Gefängnis das Sagen haben, sondern andere.«
    »Ja. Aber auf was willst du hinaus?«
    »Natürlich stimmt es, daß Männer - und, wie du sagst, besonders weiße Männer - im Gefängnis seit Tausenden von Jahren das Sagen haben, vielleicht von Anfang an. Natürlich stimmt es, daß das ungerecht ist. Und natürlich stimmt es, daß Macht und Reichtum im Gefängnis gerecht verteilt werden sollten. Aber du darfst dabei nicht vergessen, daß für das Überleben der Menschheit nicht die Umverteilung von Macht und Reichtum entscheidend ist, sondern die Zerstörung des Gefängnisses.«
    »Das leuchtet mir ein. Aber ich weiß nicht, ob es außer mir noch viele verstehen würden.«
    »Nein?«
    »Nein. Für die politischen Aktivisten ist die Umverteilung von Macht und Reichtum ... Mir fällt kein Wort ein, das stark genug wäre. Ein Ideal, das jetzt endlich verwirklicht werden muß. Der Gral.«
    »Trotzdem ist der Ausbruch aus dem Gefängnis der Nehmer ein gemeinsames Anliegen, mit dem sich alle Menschen identifizieren können.«
    Ich schüttelte den Kopf. »Leider ist das Gegenteil der Fall. Ob weiß oder farbig, Mann oder Frau, die Menschen dieser Kultur wollen lediglich so viel Reichtum und Macht im Gefängnis der Nehmer, wie sie bekommen können. Daß sie in
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