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Ismael

Ismael

Titel: Ismael
Autoren: Daniel Quinn
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Nehmer hier aufführen, ist nicht das zweite Kapitel jener Geschichte, die in den ersten drei Millionen Jahren des menschlichen Lebens auf der Erde aufgeführt wurde. Die Geschichte der Lasser hat ein eigenes zweites Kapitel.«
    »Was enthält dieses zweite Kapitel?«
    »Das hast du doch gerade gesagt.«
    »Wirklich?«
    Ismael überlegte einen Augenblick. »Wir werden nie wissen, was für Ziele die Lasser in Europa und Asien hatten, als die Menschen deiner Kultur kamen und sie vernichteten. Aber wir wissen, was sie hier in Nordamerika vorhatten. Sie überlegten, wie sie seßhaft werden konnten, ohne gegen ihr bisheriges Leben zu verstoßen, also ohne anderes Leben zu vernichten. Ich sage nicht, daß sie dabei irgendwelche hohen Ideale hatten. Ich meine nur, sie dachten nicht entfernt daran, sich zu den Herren allen Lebens aufzuschwingen und dem Rest der Lebensgemeinschaft den Krieg zu erklären. Wenn sie sich fünf- oder zehntausend Jahre so weiterentwickelt hätten, hätten sich auf diesem Kontinent vielleicht ein Dutzend Zivilisationen auf demselben Niveau wie eure entwickelt, jede mit anderen Werten und Zielen. Das wäre nicht undenkbar gewesen.«
    »Nein, überhaupt nicht. Oder vielmehr doch. Dem Mythos der Nehmer zufolge sind alle Zivilisationen der Welt notwendigerweise Nehmer-Zivilisationen, in denen die Menschen über das Leben herrschen. Das ist so selbstverständlich, daß es gar nicht mehr gesagt werden muß. Jede außerirdische Zivilisation in der Geschichte der Science-fiction ist eine Nehmer-Zivilisation. Jede Zivilisation, der das amerikanische Raumschiff Enterprise begegnete, ist eine Nehmer-Zivilisation. Denn intelligente Lebewesen werden selbstverständlich überall versuchen, von den Göttern unabhängig zu werden und ihr Leben selbst in die
    Hand zu nehmen, da sie überzeugt sind, die Welt gehöre ihnen und nicht umgekehrt.«
    »Richtig.«
    »Da fällt mir eine wichtige Frage ein. Was genau würde es für uns heute bedeuten, zur Welt dazuzugehören? Denn du sagst ja nicht, daß nur Jäger und Sammler dazugehören.«
    »Gut, daß du das fragst. Obwohl, wenn die Buschmänner in Afrika oder die Kalapalo Brasiliens - wenn noch welche übrig sind - die nächsten zehn Millionen Jahre weiterleben würden wie bisher, wäre das sicher segensreich für sie und für die ganze Welt.«
    »Ja. Aber das beantwortet meine Frage nicht. Wie kann ein zivilisiertes Volk sich als Teil der Schöpfung verstehen?«
    Ismael schüttelte den Kopf in einer Mischung aus Ungeduld und Verzweiflung. »Zivilisiert hat damit gar nichts zu tun. Wie können das Taranteln? Oder Haie?«
    »Das verstehe ich nicht.«
    »Sieh dich um, und du wirst Geschöpfe sehen, die sich verhalten, als gehöre die Welt ihnen, und andere, die sich verhalten, als gehörten sie zur Welt dazu. Kannst du sie auseinanderhalten?«
    »Ja.«
    »Die Geschöpfe, die sich verhalten, als gehörten sie zur Welt dazu, befolgen das Gesetz des Friedens und ermöglichen dadurch anderen Geschöpfen, zu wachsen und das in ihnen angelegte Potential zu verwirklichen. So entstand der Mensch. Die Geschöpfe, die zur Zeit des Australopithecus lebten, betrachteten die Welt nicht als ihr Eigentum, deshalb ließen sie ihn leben und wachsen. Was hat das damit zu tun, daß jemand zivilisiert ist? Heißt zivilisiert, daß man die Welt zerstören muß?«
    »Nein.«
    »Heißt es, daß man anderen Geschöpfen den zum Leben notwendigen Raum nicht zugestehen darf?«
    »Nein.« »Daß man nicht so harmlos wie Haie, Taranteln oder Klapperschlangen sein darf?«
    »Nein.«
    »Daß man einem Gesetz nicht mehr gehorchen darf, dem sogar Schlangen und Regenwürmer ohne Schwierigkeit gehorchen?«
    »Nein.«
    »Ich habe vor einiger Zeit gesagt, die menschliche Seßhaftigkeit verstoße nicht gegen das Gesetz, sondern sei ihm unterworfen - dasselbe gilt für Zivilisationen. Auf was genau zielt deine Frage also?«
    »Jetzt weiß ich es selbst nicht mehr. Zur Welt dazugehören heißt offensichtlich ... zum selben Verein gehören wie die anderen. Wobei der Verein die Gemeinschaft des Lebens ist. Man gehört also diesem Verein an und befolgt dieselben Regeln wie die anderen.«
    »Und wenn Zivilisation überhaupt eine Bedeutung hat, dann die, daß ihr die Leiter des Vereins seid, nicht Verbrecher, die ihm den Garaus machen.«
    »Ja.«
    8
    »Um noch einmal auf die Hoffnung zurückzukommen«, sagte Ismael, »ich habe den Eindruck, daß es heute noch eine andere vielversprechende Quelle der Hoffnung
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