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Ismael

Ismael

Titel: Ismael
Autoren: Daniel Quinn
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gibt.«
    »Welche denn?«
    »Meine anderen Schüler sagten, als sie an diesem Punkt angekommen waren: >Das ist ja alles ganz wunderbar - aber die Menschen werden ihre Herrschaft nicht aufgeben. Das ist ausgeschlossen. Es wird nie geschehen. Nicht in tausend Jahren.<
    Und ich konnte ihnen kein Gegenbeispiel geben, das zu Hoffnung berechtigt hätte. Jetzt kann ich das.«
    Ich brauchte etwa anderthalb Minuten, um draufzukommen, was er meinte. »Du meinst, was in den letzten Jahren in der Sowjetunion und in Osteuropa passiert ist.«
    »Richtig. Wer vor zehn, zwanzig Jahren vorausgesagt hätte, der Marxismus würde bald von oben demontiert werden, wäre als Narr und Spinner ausgelacht worden.«
    »Stimmt.«
    »Aber die Aussicht auf ein neues Leben beflügelte die Menschen dieser Länder, und die Demontage kam fast über Nacht.«
    »Ganz deiner Meinung. Vor fünf Jahren hätte ich noch gesagt, Glaube und Hoffnung könnten einen solchen Umschwung nicht bewirken - und genauso wenig den Umschwung, über den wir sprechen.«
    »Und jetzt?«
    »Jetzt kann ich es mir immerhin vorstellen. Es ist zwar völlig unwahrscheinlich, aber nicht undenkbar.«
    9
    »Aber ich habe noch eine Frage«, sagte ich.
    »Ich höre.«
    »In deiner Anzeige war die Rede von »ernsthaftem Verlangen, die Welt zu retten<.«
    »Und?«
    »Was tue ich, wenn ich die Welt ernsthaft retten will?« Ismael starrte mich stirnrunzelnd eine längere Zeit durch das Gitter an. »Willst du von mir ein Programm?«
    »Ja, ein Programm.«
    »Hier ist es: Die Geschichte der Genesis muß umgekehrt werden. Erstens darf Kain Abel nicht mehr umbringen. Das ist entscheidend, wenn ihr überleben wollt. Die Lasser sind von den gefährdeten Arten der Welt die wichtigste - nicht weil sie Menschen sind, sondern weil nur sie den Zerstörern der Welt zeigen können, daß es kein Leben gibt, das als einziges richtig wäre. Und zweitens müßt ihr natürlich die Frucht des verbotenen Baumes ausspucken. Ihr müßt euch vollständig und für immer von der Vorstellung verabschieden, ihr könntet auf diesem Planeten über Leben und Tod bestimmen.«
    »Das leuchtet mir ja alles ein, aber es ist ein Programm für die ganze Menschheit, nicht für mich. Was kann ich tun?«
    »Du kannst hundert Schüler lehren, was ich dich gelehrt habe, und ihnen Mut machen, das Gelernte wieder an je hundert Schüler weiterzugeben. So macht man es doch immer.«
    »Schon, aber ... reicht das?«
    Ismael runzelte die Stirn. »Nein, natürlich nicht. Nur, wenn du anders anfängst, besteht überhaupt keine Hoffnung. Man kann nicht das Verhalten der Menschen ändern wollen, ohne zugleich ihre Vorstellung von der Welt, den Absichten der Götter und der Bestimmung des Menschen zu ändern. Solange die Menschen deiner Kultur überzeugt sind, die Welt gehöre ihnen und es sei ihr von den Göttern bestimmtes Schicksal, sie zu erobern und zu beherrschen, werden sie natürlich weiter das tun, was sie seit zehntausend Jahren tun. Sie werden die Erde weiter so behandeln, als sei sie menschliches Eigentum, und sie werden sie weiter erobern, als sei sie ein Gegner. So etwas kann man nicht durch Gesetze ändern. Man muß das Denken der Menschen ändern. Und man kann nicht einfach die schlechten Gedanken ausmerzen und nichts an ihre Stelle setzen. Man muß den Menschen etwas geben, das ihnen genau soviel bedeutet wie das Verlorene - etwas Sinnvolleres als den schrecklichen alten Übermenschen, der alles vernichtet, was nicht direkt oder indirekt seinen Bedürfnissen dient.«
    Ich schüttelte den Kopf. »In anderen Worten, jemand müßte für die heutige Welt sein, was Paulus für das Römische Reich war.«
    »Im Grunde ja. Ist das so unmöglich?«
    Ich lachte. »Unmöglich ist gar kein Ausdruck. Genau so gut könntest du den Atlantik einen Wassertropfen nennen.«
    »Ist es wirklich so unmöglich in einem Zeitalter, in dem ein Showmaster im Fernsehen in zehn Minuten mehr Menschen erreicht als Paulus in seinem ganzen Leben?«
    »Ich bin kein Showmaster.«
    »Aber ein Schriftsteller.«
    »Nicht so einer.«
    Ismael zuckte die Schultern. »Gut für dich. Dann bist du von allen Verpflichtungen erlöst. Erlöst von eigenen Gnaden.«
    »Das habe ich nicht gemeint.«
    »Was hast du von mir erwartet? Eine Zauberformel? Ein Zauberwort, das alle Probleme auf einen Schlag löst?«
    »Nein.«
    »Offenbar bist du gar nicht so verschieden von denen, die du angeblich verachtest: Du willst nur ein ruhiges Gewissen haben, damit du dem Ende gefaßt
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