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Ismael

Ismael

Titel: Ismael
Autoren: Daniel Quinn
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überlegen«, sagte ich. »Ich glaube zwar nicht, daß du das meinst, aber etwas anderes fällt mir nicht ein: Die Menschen, deren Leben in der Hand der Götter ist, unterwerfen sich die Welt nicht und zwingen nicht alle dazu, zu leben wie sie. Die Menschen dagegen, die wissen, was gut und böse ist, tun das.«
    »Du hast die Frage umgedreht«, sagte Ismael. »Ich fragte, was mit Menschen, deren Leben in der Hand der Götter ist, passiert, und zwar im Unterschied zu denen, die wissen, was gut und böse ist. Du hast mir das Gegenteil gesagt: was den einen Menschen im Unterschied zu den anderen nicht widerfährt.«
    »Du suchst also nach etwas Positivem, das denen zustößt, deren Leben in der Hand der Götter ist.«
    »Richtig.«
    »Hm. Sie lassen die anderen Menschen leben, wie diese es wollen.«
    »Jetzt sagst du mir, was sie tun, nicht, was ihnen zustößt. Es geht mir um die Auswirkungen ihres Lebensstils.«
    »Tut mir leid, aber ich weiß nicht, worauf du hinauswillst.«
    »Du weißt es, du bist nur nicht gewohnt, in diesen Begriffen zu denken.«
    »Also gut.«
    »Du erinnerst dich an die Frage, deren Beantwortung wir uns heute morgen vorgenommen haben: Wie wurde der Mensch zum Menschen? Wir suchen immer noch die Antwort auf diese Frage.«
    Ich stöhnte laut und deutlich.
    »Warum stöhnst du?« fragte Ismael.
    »Weil so allgemeine Fragen mir angst machen. Wie wurde der Mensch zum Menschen? Ich weiß es nicht. Er wurde es einfach. Er wurde es, wie die Vögel Vögel wurden und die Pferde Pferde.«
    »Bravo.«
    »Mach dich nicht über mich lustig«, sagte ich.
    »Offensichtlich hast du gar nicht verstanden, was du gerade gesagt hast.«
    »Wahrscheinlich nicht.«
    »Ich erkläre es dir. Wer war der Vorläufer der Gattung Homo?«
    »Der Australopithecus.«
    »Gut. Und wie wurde der Australopithecus zum Menschen?«
    »Er wartete einfach ab.«
    »Bitte! Du sollst denken.«
    »Entschuldigung.«
    »Vielleicht wurde er zum Menschen, indem er sagte: >Wir wissen jetzt genauso wie die Götter, was gut und böse ist, also ist unser Leben jetzt nicht mehr in ihrer Hand wie das Leben der Kaninchen und Eidechsen. Von jetzt an bestimmen wir selbst, wer auf dieser Erde lebt und wer stirbt, nicht die Götter.<«
    »Das glaube ich nicht.«
    »Wäre das nicht möglich gewesen?«
    »Nein.«
    »Warum nicht?« »Weil das die Bedingungen außer Kraft gesetzt hätte, unter denen Evolution stattfindet.«
    »Genau. Und jetzt kannst du die Frage beantworten: Was passiert mit Menschen - und anderen Geschöpfen -, deren Leben in der Hand der Götter ist?«
    »Ach so, jetzt verstehe ich. Sie entwickeln sich unter den Bedingungen der Evolution.«
    »Und jetzt kannst du auch die Frage beantworten, die ich heute morgen gestellt habe: Wie wurde der Mensch zum Menschen?«
    »Indem er in der Obhut der Götter lebte.«
    »Wie die Buschmänner in Afrika.«
    »Ja.«
    »Nicht wie die Einwohner von Chicago.«
    »Nein.«
    »Oder London.«
    »Nein.«
    »Du weißt jetzt also, was mit Menschen passiert, deren Leben in der Hand der Götter ist.«
    »Ja. Sie entwickeln sich.«
    »Warum entwickeln sie sich?«
    »Weil sie es können. Weil die Evolution es so will. Der Vorgänger des Menschen entwickelte sich zum Menschen im Wettbewerb mit dem Rest der Schöpfung. Er entwickelte sich zum Menschen, weil er sich nicht außerhalb des Wettbewerbs stellte, und weil er der natürlichen Selektion unterworfen war.«
    »In anderen Worten, er war Teil der umfassenden Gemeinschaft des Lebens.«
    »Ja.«
    »Und deshalb entwickelte er sich - vom Australopithecus zum Homo habilis, vom Homo habilis zum Homo erectus, vom Homo erectus zum Homo sapiens und vom Homo sapiens zum Homo sapiens sapiens.«
    »Ja.« »Und was geschah dann?«
    »Dann sagten die Nehmer: >Wir wollen nicht mehr von den Göttern abhängig sein. Wir wollen keine natürliche Selektion mehr, nein danke.<«
    »Und damit basta.«
    »Ja.«
    »Du erinnerst dich, daß ich sagte, eine Geschichte aufführen heißt, so zu leben, daß die Geschichte Wirklichkeit werden kann.«
    »Ja.«
    »Der Geschichte der Nehmer zufolge war die Schöpfung mit dem Menschen zu Ende.«
    »Ja. Und?«
    »Wie kann man diese Annahme wahr machen? Was würdest du tun, damit die Schöpfung tatsächlich mit dem Menschen zu Ende ist?«
    »Ach so, jetzt verstehe ich. Ich würde leben wie die Nehmer. Wir leben doch, als wollten wir die Schöpfung beenden. Wenn wir so weitermachen, wird es keinen Nachfolger des Menschen geben und keinen Nachfolger des
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