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Ismael

Ismael

Titel: Ismael
Autoren: Daniel Quinn
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das Wild verschwindet, und die Raubtiere werden weniger.«
    »Und was passiert mit euch?«
    »Wenn es eine schlimme Dürre ist, werden wir auch weniger.«
    »Das heißt, ihr müßt sterben?«
    »Ja, Bwana.«
    »Eben! Darum geht es!«
    »Ist es eine Schande, wenn man sterben muß, Bwana?«
    »Nein ... Jetzt habe ich es. Hör zu, es geht um folgendes. Ihr müßt sterben, weil ihr von der Willkür der Götter abhängig seid. Ihr müßt sterben, weil ihr glaubt, die Götter würden für euch sorgen. Bei Tieren ist das egal, aber ihr müßtet es eigentlich besser wissen.«
    »Wir dürfen unser Leben nicht den Göttern anvertrauen?«
    »Auf keinen Fall. Ihr müßt selbst über euer Leben bestimmen. Dann lebt ihr wie Menschen.«
    Ismael schüttelte nachdenklich den Kopf. »Das macht mich sehr traurig, Bwana. Seit unvorstellbarer Zeit leben wir in der Obhut der Götter, und unser Leben gefiel uns. Wir überließen den Göttern die Arbeit des Säens und des Pflanzens und lebten ein sorgenfreies Leben, und es schien, als sei auf der Welt immer genug für uns da, denn - denn schließlich leben wir!«
    »Ja«, sagte ich streng, »noch lebt ihr, aber wie. Ihr habt nichts, keine Kleider, kein Dach über dem Kopf, keine Sicherheit, keinerlei Komfort und keinerlei Zukunft.«
    »Und ist das so, weil wir in der Obhut der Götter leben?«
    »Freilich! Für die Götter seid ihr nicht wichtiger als Löwen, Eidechsen oder Flöhe. Für diese Götter, die sich um Löwen, Eidechsen und Flöhe kümmern, seid ihr nichts Besonderes. Ihr seid lediglich ein Tier mehr, das ernährt werden muß. Augenblick.« Ich schloß die Augen und dachte nach. Dann sagte ich: »Das ist jetzt wichtig. Die Götter unterscheiden nicht zwischen euch und den anderen Geschöpfen. Nein, das ist es auch nicht ganz. Warte.« Ich dachte wieder nach und machte einen neuen Anlauf. »Jetzt habe ich es: Die Götter ermöglichen, daß ihr leben könnt wie Tiere - zugegeben. Aber wenn ihr leben wollt wie Menschen, müßt ihr das selbst in die Hand nehmen. Die Götter tun es nicht.«
    Ismael sah mich entsetzt an. »Du meinst, wir brauchen dazu etwas, das die Götter uns nicht geben wollen, Bwana?«
    »So sieht es aus, ja. Die Götter geben euch, was ihr braucht, um wie Tiere zu leben, aber nicht, was ihr darüber hinaus braucht, wenn ihr wie Menschen leben wollt.«
    »Aber wie ist das möglich, Bwana? Wie ist es möglich, daß die Götter in ihrer Weisheit einerseits das Universum, die Erde und das Leben auf der Erde erschaffen haben, andererseits aber dem Menschen nicht geben, was er braucht, um Mensch zu sein?«
    »Ich weiß es auch nicht, aber so ist es. Der Mensch hat drei Millionen Jahre in der Obhut der Götter gelebt, und er ist nach diesen drei Millionen Jahren nicht besser dran und nicht weiter als am Anfang.«
    »Wirklich, Bwana, das sind schlimme Nachrichten. Was für Götter sind das?«
    Ich lachte heftig. »Die Götter, mein Freund, sind unfähig. Deshalb müßt ihr euch von ihnen befreien. Ihr müßt euer Leben selbst in die Hand nehmen.«
    »Und wie stellen wir das an, Bwana?«
    »Wie gesagt, ihr müßt eure Nahrung selbst anbauen.«
    »Aber was ändert das, Bwana? Nahrung ist Nahrung, egal ob wir sie anbauen oder die Götter.«
    »Genau darum geht es. Die Götter bauen nur an, was ihr braucht. Ihr könnt mehr anbauen, als ihr braucht.«
    »Wozu, Bwana? Wozu brauchen wir mehr Nahrung als notwendig?« »Verdammt!« brüllte ich. »Was ist daran so schwer zu kapieren!«
    Ismael lächelte und sagte: »Wozu brauchen wir also mehr Nahrung als notwendig?«
    »Aber darum geht es doch, verdammt noch mal! Wenn ihr mehr Nahrung habt, als ihr braucht, dann haben die Götter keine Macht über euch!«
    »Wir können ihnen eine lange Nase machen.«
    »Genau.«
    »Trotzdem, Bwana, was sollen wir mit der Nahrung tun, wenn wir sie nicht brauchen?«
    »Aufbewahren natürlich! Ihr bewahrt sie auf und könnt dann den Göttern einen Strich durch die Rechnung machen, wenn sie euch hungern lassen wollen. Ihr bewahrt die Nahrung auf, und wenn die Götter eine Dürre schicken, könnt ihr sagen: >Nicht mit uns, nein! Wir hungern nicht, auch wenn ihr das wollt, denn wir haben unser Leben jetzt selbst in die Hand genommen!«»
    5
    Ismael nickte und beendete das Spiel. »Ihr habt euer Leben jetzt also selbst in die Hand genommen.«
    »Richtig.«
    »Warum macht ihr euch dann überhaupt Sorgen?«
    »Was meinst du?«
    »Wenn ihr euer Leben selbst in die Hand genommen habt, dann hängt es doch
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