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Isch geh Schulhof: Erfahrung

Isch geh Schulhof: Erfahrung

Titel: Isch geh Schulhof: Erfahrung
Autoren: Philipp Möller
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flucht er laut, springt auf und drängelt sich zur Tür. Als der Zug quietschend zum Halten kommt, tritt er auf den Bahnsteig und bleibt dort erst einmal stehen, sodass sich alle anderen Fahrgäste umständlich an ihm vorbeischieben müssen. Mit den Händen in den Hosentaschen sieht er sich auf dem Bahnhof um. Die Bewegungen seiner Kaumuskeln demonstrieren Stärke und Entschlossenheit. Die Luft scheint rein, also setzt er sich in Bewegung und verlässt die Bühne.
    Was für ein Auftritt.
    Ja – das ist Berlin! Wer sich davon überzeugen möchte, dem seien der Erwerb einer Tageskarte und eine ausgedehnte Tour durch den westlichen Teil des Tarifbereichs B empfohlen. Der Besucher wird schnell feststellen, dass derlei Auftritte nicht nur denjenigen vorbehalten sind, denen Rechtspopulisten gern den Migrantenstempel aufdrücken, nein: Sie sind überall dort ein fester Bestandteil unserer Gesellschaft, wo die gefährliche Mischung aus Bildungsarmut und Perspektivlosigkeit für Frustration, Rücksichtslosigkeit und Gewaltbereitschaft sorgen. Die Schule, an der ich heute meinen neuen Job als Lehrer antrete, liegt in einer der größten Metropolen des geheimnisvollen Planeten Hartz IV – in einem der zahlreichen Berliner Kieze, die von dieser gefährlichen Mixtur betroffen sind.
    Als ich die Bahn wenige Stationen später verlasse, beschleicht mich das Gefühl, die Geschichte mit Hamoudi und der Frau in Solarion könnte erst der Anfang gewesen sein. Noch habe ich nicht die leiseste Ahnung davon, wie es sein wird, Kinder zu unterrichten, deren Schicksale ich bisher hauptsächlich aus dem Fernsehen kenne. Von den vernichtenden Urteilen verschiedener Studien über deutsche Bildungseinrichtungen habe ich zwar gelesen, doch nun stehe ich kurz davor, die Gesichter hinten diesen trockenen Fakten live und in Farbe kennenzulernen.
    Um halb neun verlasse ich den U-Bahnhof und trete ins grelle Tageslicht. Bühne frei, es ist so weit: Ich bin Lehrer!
    Oder wie die Kids sagen würden: Isch geh Schule.

2
Schmerzlich Willkommen

    A ls ich durch das Schultor gehe, beschleicht mich ein merkwürdiges Gefühl. Zum ersten Mal durchschreite ich diese Pforte nicht als Assistent der Schulleitung, sondern als Lehrer. Ab heute werde ich meine belegten Graubrote im Kreise meiner lieben Kollegen im Lehrerzimmer verspeisen, hinter dem Pult Prüfungen überwachen, die Tafel mit Zahlen und komplizierten Formeln vollkritzeln und als von allen Schülern geachtete Autoritätsperson in der Pause über den Hof flanieren.
    Zumindest in meiner Vorstellung.
    Bevor ich das Gebäude betrete, lasse ich meinen Blick noch einmal über die Betonwüste schweifen, die den Schülern hier als Schulhof zugemutet wird – die Achtziger lassen grüßen. Das Schulgebäude hingegen stammt aus einer Zeit, in der Schüler noch mit dem Rohrstock erzogen wurden. Ein frischer Märzwind weht mir ins Gesicht, und durch die nackten Äste der Bäume sehe ich ein Stück des grauen Himmels, der den Eindruck der gesamten Szenerie deprimierend vervollständigt.
    Als ich die schwere Eingangstür der Grundschule öffne, schlägt mir der beißende Gestank von altem Urin entgegen. Daran werde ich mich wohl nie gewöhnen. Die Toilette befindet sich in der Eingangshalle, und so ist der Fäkalgeruch das Erste, was Schülern wie Lehrern jeden Morgen entgegenweht, wenn sie eine der wichtigsten Institutionen unserer Gesellschaft betreten. Zum Ambiente des Foyers passt dieser Morgengruß jedoch recht gut: Putz bröckelt von dringend renovierungsbedürftigen Wänden, und durch die verschmutzten Fenster fällt nur wenig Licht.
    Der Klang meiner Schritte hallt durchs Treppenhaus. Weil die erste Stunde bereits begonnen hat, herrscht hier eine ungewöhnliche, fast unheimliche Stille. Auf der Hälfte der Treppe angekommen, empfängt mich das lebensgroße, von Kinderhand gemalte Bild eines Kampfhundes. Unweigerlich bleibe ich davor stehen und schaue dem Biest in die Augen. Auf dem Fußweg hierher habe ich wegen eines solchen Köters, der selbstverständlich ohne Leine und Maulkorb ausgeführt wurde, gerade noch die Straßenseite gewechselt.
    Ein lauter Knall reißt mich aus den Gedanken, ich zucke zusammen. Die Glastür im ersten Stock wird aufgestoßen. Als ich mich umdrehe, sehe ich zwei Jungs die Treppe hinunterstürmen.
    »Ey, du Opfer, wo gehst du?«, brüllt der hintere.
    »Isch geh bei Klo, du Bastard«, antwortet der erste, ohne sich dabei umzudrehen.
    Er bremst vor mir ab und rotzt mir unvermittelt
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