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Isch geh Schulhof: Erfahrung

Isch geh Schulhof: Erfahrung

Titel: Isch geh Schulhof: Erfahrung
Autoren: Philipp Möller
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ich mich erst mal ans kleine Einmaleins, damit kann man eigentlich nichts falsch machen.
    Eigentlich.
    »Wie viel ist vier mal fünf?«, frage ich die Klasse.
    »Zwanzig«, ruft Florian, ohne sich zu melden. »Richtig, aber reingerufen. Zählt nicht!«
    Schon der kleinste Anlass reicht aus, um die bedrohliche Gruppendynamik der 4e in Gang zu setzen. Erneut droht Chaos auszubrechen. Wie soll ich mir hier Gehör verschaffen?
    Schnell, Philipp, lass dir was einfallen!
    Ich entscheide mich dazu, die Kinder in voller Lautstärke zur Ordnung zu rufen.
    »Ruhe bitte!«, belle ich etwas brachial, aber zielführend.
    Na also. Dann stelle ich die nächste Aufgabe.
    »Sechs mal sechs?«
    Jason aus der ersten Reihe meldet sich blitzschnell. Er ist ein kleiner untersetzter Junge ohne Migrationshintergrund, der ziemlich traurig aus der Wäsche schaut.
    »Sechsundsechzig?«, fragt er unsicher.
    »Nein, leider falsch, Jason«, gebe ich zurück. »Weiß es jemand anders?«
    So viele Gesichter, so viel Ratlosigkeit.
    »Niemand? Sechs mal sechs?«
    Nina meldet sich und schaut mich dabei langsam blinzelnd an. »Zwölf?«, fragt sie.
    »Nein. Möchte es noch jemand probieren?«, frage ich und kann den verzweifelten Unterton meiner Stimme kaum noch verbergen. Ich atme tief durch und rufe mir in Erinnerung, dass ich hier vor einer vierten Klasse stehe. Die pure Ratlosigkeit der Schüler ist einem betretenen Schweigen gewichen.
    »Okay, dann rechnen wir zusammen«, schlage ich vor, denn von der Uni habe ich noch vage in Erinnerung, dass dort mal die Rede vom sogenannten Lehrgespräch war, einer Dialogform des Frontalunterrichts. Mein Dozent bezeichnete diese Form damals wenig schmeichelhaft als Osterei-Pädagogik: Der Lehrer versteckt das Wissen, und die Kinder müssen es finden. Er fand das weder innovativ noch zeitgemäß, aber weil mir im Moment keine bessere Lösung einfällt, beschließe ich, dass es für den Anfang in Ordnung ist. Ich schnappe mir also ein Stück Kreide und schreibe sechs Sechsen an die Tafel.
    »Welches Zeichen muss ich denn dazwischenschreiben, um auf das richtige Ergebnis zu kommen?«
    Immer noch Stille. Die Kids weichen meinem fragenden Blick aus.
    »Also«, fahre ich fort, »um das Ergebnis von sechs mal sechs zu errechnen, muss ich die sechs Sechsen miteinander …«
    Ein Junge im Mittelfeld des Klassenraums meldet sich. Ranjad steht auf seinem Namensschild – ich kann nur vermuten, wie man das ausspricht. Ranjad hat dunkle Haut, und bei seinem Namen liegt die Vermutung nahe, dass seine Eltern aus Indien stammen. Er ist ordentlich gekleidet und wirkt trotz seiner vorbildlichen Körperhaltung sehr schüchtern.
    »Ja, Ranjad. Was muss ich mit den Sechsen machen?«
    »Plus rechnen«, sagt er unsicher.
    Während ich fünf Pluszeichen zwischen die Zahlen schreibe, steigt der Lärmpegel hinter mir so rasant an, dass ich meine liebe Mühe habe, mich auf die Kreidekreuze zu konzentrieren.
    »Richtig«, sage ich in den Tumult hinein, als ich mich wieder umgedreht habe. »Kannst du mir auch sagen, was dann rauskommt?«
    Ranjad überlegt einen Moment, während er mit starrem Blick auf die Tafel die Sechsen zusammenzählt. Dabei bewegt er stumm die Lippen.
    »Sechsunddreißig.«
    »Sehr gut«, lobe ich ihn und blicke dann in die Runde. »Elf mal acht?«
    »Ohaaaaa …«, entfährt es Michelle, während die anderen Kinder angestrengt und nicht gerade leise Zahlen zusammenrechnen. Schließlich meldet sie sich. Aufgrund ihrer Kleidung vermute ich, dass sie aus einer Familie stammt, die über keine nennenswerten finanziellen Mittel verfügt. Anders als viele ihrer Mitschülerinnen trägt sie keine glitzernden Accessoires, hat keine bunte Prinzessin-Lillifee-Schulmappe, und ihre Schuhe sehen so aus, als ob sie einmal ihrem größeren Bruder gehört hätten. Ihre dunkelblonden Haare sind zu einem langen Zopf geflochten.
    »Neunzehn?«
    »Nein, Michelle, das ist elf plus acht. Ich hab aber nach elf mal acht gefragt. Ranjad, du warst schon dran«, kommentiere ich sein eifriges Melden. »Sonst jemand? Elf mal acht?«
    Ich komme mir vor wie ein Marktschreier, der versucht, faule Früchte zu verkaufen. Der Lärmpegel im Klassenraum steigt, aber es meldet sich niemand.
    »Michelle, komm doch bitte mal an die Tafel und schreib elf mal die Acht an die Tafel.«
    Sie kommt widerwillig nach vorn, nimmt sich ein Stück Kreide und beginnt, verschieden große Gebilde an die Tafel zu malen, die ich mit etwas Fantasie als Achten identifiziere.
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