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Isch geh Schulhof: Erfahrung

Isch geh Schulhof: Erfahrung

Titel: Isch geh Schulhof: Erfahrung
Autoren: Philipp Möller
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vor die Füße.
    »Was?«, fragt er dann und schaut mich angriffslustig an.
    Nicht schlecht für jemanden, der ungefähr fünfzig Kilo leichter und zwei Köpfe kleiner ist als ich!
    »Nichts, nichts«, versuche ich ihn zu beruhigen und weiche einen Schritt zurück.
    Die Lehrerin der beiden, eine Dame mittleren Alters, betritt das Treppenhaus und ruft den Flüchtigen hinterher.
    »Erhan und Raik, ihr kommt sofort …«
    »Mann, Frau Gärtner, sch’ab doch gesagt, wir gehen Klo«, entgegnet ihr der eine, während der andere die Tür zur stinkenden Toilette aufreißt.
    Meine Kollegin schließt die Augen und seufzt. Dann macht sie sich auf den Weg, die beiden Ausreißer wieder einzufangen. Mit einem Blick auf die Tür, die sie leise hinter sich geschlossen hat, wird mir klar, dass ich das Schicksal dieser Frau ab heute teilen werde. Denn die beiden Jungs sind offenbar Schüler der 4e – und das ist eine meiner Matheklassen.
    Bevor ich meine erste Stunde als Lehrer antrete, statte ich meinem alten und neuen Chef einen Besuch in seinem Büro ab. Es kommt im klassischen Behörden-Look daher: abgewetzter, moosgrüner Teppich zu beigefarbenen Wänden, ausgeblichene Gardinen in zeitlosem Orange und alte Möbel, die Stahl und Holz in charmanter Kombination miteinander verschmelzen lassen. Die Regale sind vollgestopft mit Leitz-Ordnern und pädagogischer Literatur aus Zeiten, in denen Hosen noch Schlag und Telefone noch Wählscheiben hatten. Das Waschbecken voller Kalkspuren weckt bei mir jedes Mal die Vorstellung, ich beträte den Untersuchungsraum des Amtsarztes. Ein bisschen riecht es auch so.
    Mitten in diesem Raum sitzt Herr Friedrich am Schreibtisch. Unser Schulleiter ist in den Sechzigern und versucht, mit dem kranzartigen Überrest seines Haupthaars die unvermeidbare Platte zu verdecken. Der Farbton seines Anzugs bewegt sich irgendwo zwischen Sand und Senf und passt sich damit stimmungsvoll seiner Umgebung an – ein typischer Fall von Büro-Camouflage. Die Gesichtsfarbe meines Vorgesetzten weist dagegen eine leicht ungesunde Rötung auf. Kommt die von dem uralten Röhrenmonitor, der wie eine riesige Strahlenkanone auf seinem Schreibtisch steht?
    Weit nach vorn gebeugt starrt er mit zusammengekniffenen Augen durch seine Siebzigerjahre-Brille auf den Bildschirm und hackt dabei auf ein und dieselbe Taste der Tastatur. Bing, bing, bing, kommentiert das der Rechner: Fehlermeldung.
    »Hach, das ist aber auch was hier! Immer diese …« Friedrich bemerkt mich und blickt auf. »Ach, unser neuer Kollege«, sagt er dann, steht in seiner typisch ungelenken Art, die mir von meinem alten Job noch sehr vertraut ist, auf und streckt mir die Hand entgegen. »Und, schon aufgeregt?«
    Ich nicke. Kein Wunder, denn in ungefähr zwei Stunden werde ich als Mathelehrer vor einer vierten Klasse stehen – ohne auch nur eine Minute Unterrichtserfahrung zu haben!
    Herr Friedrich klopft mir mit schlecht gespielter Lässigkeit auf die Schulter.
    »Machen Sie sich keine Sorgen, das wird schon«, sagt er. »Immerhin kennen Sie die Schule ja schon.«
    Das ist ja das Problem! In dem knappen halben Jahr, in dem ich als sein Assistent an der Ludwig-Feuerbach-Schule war, habe ich hin und wieder auch mal bei der Hausaufgabenbetreuung geholfen. Ich weiß daher, was mich erwartet: Kinder aus deprimierenden Familienverhältnissen, die sich kaum konzentrieren können und deren Schimpfwörter selbst mir als abgehärtetem Berliner die Schamesröte ins Gesicht steigen lassen.
    Eigentlich war ich damals ganz froh, dass sich der Assistenzjob, der mir eine Weile die Miete finanziert hat, seinem Ende zuneigte. Doch dann bot mir Herr Friedrich vollkommen unerwartet eine Stelle als Lehrer an. Zu meiner Verwunderung erklärte er mir vor den Winterferien, dass er mich gerne als Quereinsteiger verpflichten wolle. Das Modell, das fachfremden Personen ermöglicht, die pädagogische Verantwortung für Schulkinder zu übernehmen, trägt den sperrigen Namen Personalkostenbudgetierung, kurz PKB . Ich zögerte, das Angebot anzunehmen. Sollte ich etwa doch Grundschullehrer werden, nachdem ich mich jahrelang erfolgreich dagegen gewehrt hatte, in die Fußstapfen meiner Eltern zu treten? Mit gemischten Gefühlen unterzeichnete ich schließlich den Arbeitsvertrag, der mich bis zu den kommenden Sommerferien, also etwas mehr als drei Monate lang, zum Lehrer machen würde.
    Friedrich hatte mir damals versichert, dass mich eine erfahrene Lehrkraft in die Geheimnisse des Unterrichtens
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