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Irgendwann werden wir uns alles erzählen

Irgendwann werden wir uns alles erzählen

Titel: Irgendwann werden wir uns alles erzählen
Autoren: Daniela Krien
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Stimme klingt jetzt ein bisschen abfällig, »… steckst doch selber deine Nase in die Bücher, aber lass mal gut sein, Henner, das gibt sich von ganz allein, die hat’s zu Hause auch nicht leicht gehabt.«
    Mein Glücksgefühl bekommt einen schweren Seitenhieb. Ich lasse mein Brötchen liegen und gehe in den Laden. Da stehen sie und schauen mich an. »Hab alles gehört«, sage ich und hebe den Kopf.
    »So, so«, meint der Henner, »frech ist sie auch noch, aber verdammt hübsch. Da verstehe ich den Johannes.«
    Er mustert mich schamlos, die Marianne runzelt die Stirn, und ich schenke ihm ein Lächeln, bevor ich hinaus in den Hof trete.
    Der junge Karamasow hat es geschafft. Starez Sossima ist noch am Leben, doch als er stirbt, geschieht etwas Unvorhersehbares.
    Ich muss mich nützlich machen. Niemand nimmt mich hier ernst, und vielleicht haben sie recht damit. Ich gehe in den Garten und hole Zwiebeln, Kohlrabi und Karotten. In der Küche ist die Frieda am Schaffen. Sie klappert so laut mit den Töpfen, dass man es bis in den Gemüsegarten hinter dem Wohnhaus hören kann. Vorhin ist Post gekommen. Von ihrem Sohn Hartmut, aus Rosenheim. Später werde ich den geöffneten Brief liegen sehen, ich werde ihn aus dem Umschlag nehmen und lesen:
    Liebe Mutter,
    ich hätte es nicht für möglich gehalten, Dich wieder besuchen zu können. Nun ist es so weit. Deutschland wird wieder eins. Vater wäre sehr glücklich gewesen. Ich weiß nicht recht, was ich sagen soll, es ist so viel Zeit vergangen, und ich bin kein guter Briefeschreiber. Lieber würde ich mit Dir sprechen. Ich komme, wenn es Dir recht ist, in der dritten Juliwoche nach Hause, Euch besuchen. Ich bringe meine Familie mit. Gisela und die Kinder, Robert und Anna. Du weißt nicht, wie sehr ich mich freue. Vergib mir, dass ich damals nichts sagen konnte. Ich hätte Euch alle in Gefahr gebracht. Ich habe Dir aus dem Gefängnis geschrieben, aber sie haben die Briefe nicht abgeschickt. Auch später habe ich Dir geschrieben, aber nie eine Antwort von Dir bekommen.
    Es tut mir alles sehr leid. Ich habe meinen ganzen Mut zusammengenommen und Dir jetzt geschrieben, obwohl ich nichts mehr von Dir gehört habe, seit zwanzig Jahren.
    Dein Sohn Hartmut
    PS:
    Wenn ich nichts von Dir höre, gehe ich davon aus, dass Du einverstanden bist: die dritte Juliwoche, am Montag, sicher nicht vor Mittag. Es ist doch ziemlich weit bis zu Euch.
    Frieda sitzt am Küchentisch, als ich komme. Ich werfe das Gemüse auf den Tisch und sage: »Heute koche ich.« Geweint hat sie. In ihren runzligen Händen hält sie ein zerknülltes Taschentuch, auch ihr Gesicht wirkt zerknautscht. Die schmalen Lippen wölben sich nach innen – sie muss das Gebiss vergessen haben. Ihre im Nacken zu einem Knoten gebundenen grauen Haare sind dünn geworden; ich sehe die Kopfhaut durchschimmern. Sie nickt, steht auf, holt ein scharfes Messer aus dem Messerblock und reicht es mir wortlos. Und so koche ich meine erste Suppe. Ich habe die Frieda oft beobachtet und tue es ihr gleich. Aus dem großen Schmalztopf nehme ich einen Löffel voll Butterreinfett und gebe es in den Topf. Darin dünste ich die Zwiebeln, den Knoblauch und zwei Lorbeerblätter. Schließlich kommt das Gemüse dazu: Kartoffeln, Karotten, Sellerie, Kohlrabi, dann Fleischbrühe, Salz, Pfeffer und ein paar Kräuter. Auf dem Tisch liegen Brotkanten, die wir später in die Suppe tunken werden. Siegfried will ein Fleisch dazu, also schneide ich den übrig gebliebenen Rinderbraten in kleine Stücke und werfe sie kurz vorm Fertigkochen in die Suppe. Sie schmeckt tatsächlich wie sonst; ich platze fast vor Stolz.
    Siegfried scheint nichts zu bemerken, löffelt die Suppe wie immer, bedächtig, manierlich. »Leg die Hand auf den Tisch!«, sagt Marianne zu mir gewandt. Ich hatte sie auf den Beinen liegen. Als wir fertig sind, flüstert sie mir zu: »Bedank dich bei der Frieda.« Ich muss lächeln und sage artig: »Danke, Frieda, für die gute Suppe.« Die schaut mich fragend an und sagt: »Wieso bedankt sie sich, wenn sie doch selbst gekocht hat?« Jetzt schaut er mich einmal richtig an, der Vater, schmunzelt dabei und nickt ein paarmal anerkennend. »Ach«, sagt die Marianne laut, »da fängt sie doch wirklich das Kochen an, na, das ist doch mal was Nützliches.«
    Am frühen Nachmittag kommt Johannes von der Schule. Es sind seine letzten Tage; er hat das Abitur so gut wie in der Tasche. Oben, in unseren zwei Zimmern, liegen überall Bücher umher. Er hat
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