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Irgendwann werden wir uns alles erzählen

Irgendwann werden wir uns alles erzählen

Titel: Irgendwann werden wir uns alles erzählen
Autoren: Daniela Krien
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Nur der Alfred schaut dann freundlich zur Frieda rüber, die ihn ihrerseits mit Nichtbeachtung straft. Der mittlere Sohn, Hartmut, stellte 1967, gleich nach seinem achtzehnten Geburtstag, einen Ausreiseantrag, dessen Inhalt zu seiner sofortigen Verhaftung führte. Zweieinhalb Jahre später wurde er, ohne dass Frieda und Heinrich davon erfuhren, an den Westen verkauft. Sie hörten erst wieder von ihm, als er in Rosenheim, in Bayern, Wohnung und Arbeit gefunden hatte. Von seinen Plänen, das Land zu verlassen, hatten sie nichts geahnt; das wirft die Frieda ihm heute noch vor. Friedas Mann Heinrich dagegen, der vor einigen Jahren an Krebs starb, war bis zum Schluss stolz auf seinen Sohn, obwohl er ihn nie wieder sah.
    Ich trinke ein Glas Wein und bin so müde, wie ich es noch niemals vorher war. Es ist mein erster Sommer auf dem Brendel-Hof, mein erster Sommer ohne Mutter, mein erster Sommer mit einem Vater, wenn auch nicht mit meinem eigenen.
    Nach dem Essen schleppen wir uns die Treppen hinauf und gehen, ohne uns gewaschen zu haben, sogar ohne die Zähne zu putzen, ins Bett. Bevor mich ein Schlaf von ungeahnter Schwere übermannt, beschließe ich, morgen keinesfalls zur Schule zu gehen. Nächste Woche beginnen ohnehin die Ferien; es lohnt sich nicht mehr – dieses Jahr ist verloren.

Kapitel 3
    ICH WACHE AUF und bin allein. Johannes ist zur Schule gefahren.
    Heute muss ich wissen, ob Alexej Karamasow rechtzeitig das Kloster erreicht, um in dessen Sterbestunde beim Starez Sossima zu sein. Und warum hat sich der Starez vor Dmitri bis zum Boden verneigt? Die Sonne steht schon hoch, es muss fast Mittag sein. Unten in der Küche steht ein Teller für mich bereit, Brot liegt in einer Holzschale, Butter steht dort gut gekühlt, und Marmelade – die erste selbst gekochte des heurigen Sommers. Siegfried begrüßt mich im Treppenhaus mit einem ungewöhnlich freundlichen Lächeln, und Marianne höre ich im Lädchen gackern. Die Katze Selma streicht um meine Beine, die ganz zerschunden sind vom gestrigen Heueinsatz. Selten war ich so glücklich. Meine Wangen sind sonnengebräunt, die Arme und der Nacken sogar dunkelbraun, obwohl doch der Sommer noch ganz jung ist.
    Die Zwischentür zum Hofladen steht offen. Marianne lacht. Es ist der Henner dort im Laden, mit dem sie scherzt. Wahrscheinlich macht er ihr Komplimente. Die Marianne ist noch immer eine schöne Frau, kräftig gebaut, mit einem langen, dicken, dunklen Zopf und rosigen Wangen, und für den Henner hat sie eine Schwäche. Sicher kauft er Brot, aber vielleicht ist er auch nur gekommen, um zu reden, einsam, wie er ist. Der Henner sei ein Wüterich, behauptet die Frieda. Seit ihm vor vielen Jahren die Frau weglief, worüber verschiedene Geschichten kursieren, treibt er es wohl ziemlich wild. Hat seinen Hof vom Vater geerbt und ihn in wenigen Jahren heruntergewirtschaftet, so heißt es im Dorf. Nur für die Pferde habe er ein Händchen und wohl auch eine Leidenschaft. Es sollen erstklassige Trakehner sein.
    Der Siegfried sagt, es sei die DDR, die ihn zerbrochen habe. Ein Mann mit solcher Kraft, der muss sein eigenes Land bestellen und nicht noch in der LPG arbeiten. Einer wie der Henner muss sein eigener Herr sein.
    Selbst die Hunde vergisst er manchmal zu füttern, wenn er auf Frauenfang und Sauftour geht. Dann kommt es vor, dass sie umherstreunen und Schafe reißen. Auch Siegfried hat schon Lämmer an die Doggen verloren und wird es nicht gern sehen, wenn seine Frau mit dem Wüstling Scherze treibt. Aber ein stattlicher Mann ist er allemal, der Henner, sogar belesen soll er sein. Hat ein ganzes Bücherregal im Haus stehen, so etwas habe man noch nicht gesehen. Die Leute im Dorf sagen, er sei ganz nach der Mutter geraten, die sei aus der Stadt gekommen und auch schon so verschroben gewesen.
    »Ist die Maria noch immer bei euch?«, höre ich ihn sagen. »Da habt ihr euch ja ein schönes Küken ins Nest geholt.«
    Er lacht ein dröhnendes Lachen, und Marianne antwortet ihm: »Sie ist schon ein liebes Mädel, aber nichts für den Hof.«
    »Das kann ich mir denken«, antwortet er, »die bleibt nicht. Die wird in die Stadt gehen und irgendwas studieren, da könnt ihr sicher sein.«
    »Ja, ja, aber was sollen wir machen. Der Johannes ist ganz vernarrt in das Mädel. Die liest den ganzen Tag und schwänzt dabei die Schule.«
    »So?«, sagt er jetzt. »Dann schick sie raus in den Stall, da wird ihr das Lesen schnell vergehen, haha …«
    »Das sagt der Richtige …«, Mariannes
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