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Irgendwann werden wir uns alles erzählen

Irgendwann werden wir uns alles erzählen

Titel: Irgendwann werden wir uns alles erzählen
Autoren: Daniela Krien
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viele Worte, da ist er wie die meisten Männer des Dorfs. Doch wenn er spricht, dann schweigen wir und hören zu, auch wenn es Unsinn ist, doch das kommt selten vor.
    Müde sieht er aus. Seit acht Stunden ist er schon auf den Beinen, und es werden weitere acht sein. Im Sägewerk müssen Stämme in Bretter verwandelt werden, die Schafe sollen auf eine andere Weide getrieben, ein kaputter Zaun repariert und der Kuhstall ausgemistet werden. Zweimal am Tag wird gemolken, fünf Uhr früh und siebzehn Uhr am Abend. Der Milchwagen kommt alle zwei Tage und leert den gekühlten Tank.
    Marianne hat im Lädchen zu tun. Im Frühjahr hat ihr der Siegfried die ehemalige Abstellkammer neben der Küche zu einem kleinen Hofladen umgebaut. Wirklich klein ist er, nicht einmal neun Quadratmeter groß. Eine weiß gestrichene schmale Tür, die im Sommer offen steht, führt in den fensterlosen Raum, an dessen Wänden einfache Regale von bienengewachsten Brettern aus dem hauseigenen Sägewerk angebracht sind. Kaufen kann man, was der Hof hergibt: Eier, Milch, Brot – von der Frieda gebacken –, Fleisch und Wurst von Schaf, Rind und Huhn, einiges Gemüse und Obst, Strümpfe aus eigener Wolle und später, in der Vorweihnachtszeit, Gänse. Schafe und Rinder werden auswärts geschlachtet, Hühner und Gänse dagegen im Keller.
    Beim Betreten des Ladens erklingt das dunkle Läuten eines Windspiels, das Allererste, was die Marianne im Westen gekauft hat, einige Monate nachdem die Grenze fiel. Das war hier auf dem Hof beinahe unmerklich vorübergegangen. Man hatte ferngesehen, die Bilder aus Berlin wie aus einem anderen Land betrachtet, die Frieda hatte gesagt: »Dass ich das noch erlebe …«, Marianne hat geweint und Siegfried genickt. Immer wieder bewegte er seinen großen Schädel auf und nieder, dann war er die Tiere füttern gegangen. So erzählt es der Johannes, der damals kaum zu halten gewesen war und am liebsten gleich hingefahren wäre. Aber der Siegfried hat ihn nicht gelassen.
    Wir sitzen am Tisch, an den Stirnseiten Siegfried und Frieda, an der Längsseite, mit den Rücken zum Fenster, Alfred und Marianne, gegenüber sitze ich. Die Söhne sind noch in der Schule. Siegfried ist trotz der Erschöpfung guter Stimmung. Er wirft seiner Frau einen zweideutigen Blick zu. Sie lächelt still. Es ist Sommer 1990. Heuwendezeit.
    Am Nachmittag stehen wir alle mit Heurechen auf einer der großen Wiesen am Fluss. Siegfried, Frieda, Marianne, Lukas, Johannes, ich und der Alfred.
    Der Alfred hat sein ganzes Leben hier verbracht. Nur ein einziges Mal verließ er den Hof für ein paar Wochen.
    Alfreds Mutter Marie war Küchenmagd gewesen und hatte 1933 den Knecht Alwin geheiratet. Fünf Monate später kam Alfred auf die Welt. Frieda war damals bereits drei Jahre alt; es gibt Bilder von ihr. Ein kleines, rundliches Mädchen war sie mit dicken Zöpfen und einer großen Leidenschaft für den kleinen Alfred. Sie war die jüngere der beiden Schenke-Schwestern. Anneliese ging schon zur Schule, während Frieda von früh bis spät den kleinen Alfred über den Hof schleppte, ihn zwischen Wiesenblumen bettete oder ihn mit einem kleinen Schubkarren durch den Gemüsegarten schob. Friedas Brüder waren beide, drei- und fünfjährig, an einer schweren Grippe gestorben. Sie wurden nach ihrem Tod in die guten Sonntagsanzüge gesteckt, auf weißes Leinentuch gelegt und vom Fotografenmeister aus der kleinen Stadt G. zum ersten und letzten Mal abgelichtet. Die gerahmten Bilder hängte man in die gute Stube, über die Kommode mit der Tischwäsche.
    Mir rinnt der Schweiß übers Gesicht. Widerwillig laufe ich ins Haus zurück und binde mir wie die anderen Frauen ein Kopftuch um. Meine Augen brennen vom herumfliegenden Heustaub, meine Beine – von Mückenstichen übersät, vom Heu zerkratzt – jucken fürchterlich. Der Rechen kommt mir unerträglich schwer vor. Frieda, trotz ihrer sechzig Jahre, schuftet unermüdlich und ohne zu klagen. Auch Marianne arbeitet still vor sich hin. Johannes wirft mir einen warnenden Blick zu; es ist höchstens vier Uhr, wir werden noch Stunden beschäftigt sein. Ich sehe, wie der Alfred einen kleinen Flachmann aus der Hosentasche zieht und ihn verstohlen, aber genüsslich trinkt. Auch ich habe Durst, und die Frieda muss Gedanken lesen können. Sie hält in der Arbeit inne, stützt sich auf ihren Rechen und ruft mir zu: »Hol sie doch ein paar Flaschen Wasser aus der Küche, und Butterbrote. Wir machen eine Pause.«
    »Ja, mach ich!«, rufe
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