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Irgendwann werden wir uns alles erzählen

Irgendwann werden wir uns alles erzählen

Titel: Irgendwann werden wir uns alles erzählen
Autoren: Daniela Krien
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mag und ein wenig fürchte. Die anderen fürchten sich nicht.
    »Nimmst du mich nicht mit, Johannes?«, frage ich ihn und bohre meinen Blick in seinen gesenkten Kopf. Er jedoch schaut nicht. Antwortet auch nicht. Steht noch immer und verlässt den Raum. Schweigend.
    Eine Landstraße geht an den zwei Höfen vorbei, und zwei schmale Wege führen zu den Häusern. Auf der anderen Seite der Straße, etwa dreihundert Meter von den Höfen entfernt, liegt das Dorf. Die Dorfstraße wird beidseitig von Lindenbäumen gesäumt, die jetzt, im Juni, einen schweren Duft verströmen. Nahe der Brücke, die den Fluss überquert, steht die Lindenschenke.
    Dahinter ordnen sich die Häuser und kleineren Höfe, die Post, der Konsum und die Kirche kreisförmig um den Dorfteich herum an. Schmale Gassen schlängeln sich zwischen den Häusern entlang und führen zu weiteren Häusern und Höfen. Einer dieser von der Dorfmitte aus strahlenförmig wegführenden Wege geht schnurgerade auf zwei flache Betongebäude zu, die wirken, als wären sie versehentlich in die Wiesen gefallen – die örtliche LPG-Verwaltung. Dahinter prangt stolz der große Genossenschaftsschweinestall.
    Es ist ein besonderes Dorf. Weder Krieg noch DDR haben es zerstören können, so sagt es die Frieda gern. Außer ein paar Wohnhäusern und der LPG gibt es nur wenig Neues. So etwas findet man nicht mehr oft, und an den Wochenenden kommen Leute aus der Stadt und gehen hier spazieren.
    Draußen auf dem Hof laufen die Hühner umher. Marianne hat vergessen, sie einzusperren. Aus einem der oberen Fenster schaut die Frieda und schreit: »Marianne, der Fuchs wird die Hühner holen, nach zwanzig Jahren hast du es noch immer nicht begriffen. Wenn es dunkel wird, müssen die Hühner in den Stall.«
    Die alte Kastanie wirft Schatten auf das ganze Haus, doch bald, so hat es der Siegfried angekündigt, wird sie gefällt. Er will eine neue pflanzen, die alte ist zu groß geworden.
    Marianne läuft bis zum Rand der Scheune und sieht ihrem Sohn hinterher, wie er davonbraust mit seiner schwarz lackierten MZ. Ich habe mir einen Schal aus ihrer Garderobe geholt und um die Schultern gelegt. Von der Haustür aus beobachte ich sie. »Steht dir gut«, sagt sie, als sie zurückkommt, und: »Ihm passiert schon nichts.«
    Ich sorge mich nicht. Sie ist es, die nicht ruhen wird, bevor er nicht wieder daheim ist. In letzter Zeit sind mehrere tödliche Unfälle auf der Landstraße passiert. Auch ein Freund vom Johannes war dabei. Ich stehe ruhig, blase Zigarettenrauch in die frische Landluft hinaus; dann helfe ich beim Hühnerscheuchen.
    Es ist schon fast Mitternacht, als ich das Knattern der Maschine höre und schließlich den abklingenden Motor. Die Dachzimmer speichern die Hitze des Tages; ich habe mein Sommerkleid gegen ein weißes Nachthemd getauscht, das ich in einer der vielen Truhen auf dem Dachboden fand. Sicher trug es früher die Frieda.
    Sehe ich aus dem hinteren Fenster, dann weiten sich vor meinem Blick das hügelige Land und der rauschende Fluss; ich sehe die Wälder und die Rinder auf den Wiesen. Nach vorne schaue ich in den Hof und in das Laub der Kastanie, die von Vögeln bevölkert wird, und aus dem Giebelfenster über die Weiden, den Schafstall und die Bahnstrecke bis hinüber zum Henner-Hof. Erst als ich hier einzog, begriff ich, wie schön diese Landschaft ist. Für den Moment kann ich mir keinen besseren Ort denken.
    Doch nun ist es Nacht, und ich sehe nur Johannes, der sein Motorrad in den Schuppen schiebt, wieder herauskommt, sich eine Zigarette anzündet und nach oben schaut. Er kann mich nicht sehen. Ich habe das Licht gelöscht, damit ich die Spinnen, die sich ununterbrochen an durchsichtigen Fäden von der Decke lassen, nicht mehr ertragen muss. Sie widern mich an, und ich weiß, er findet sie lächerlich, meine kindische Angst.
    Er war in der Stadt, bei den Künstlern.
    Als er ins Zimmer kommt, stelle ich mich schlafend. Er wirft seine Kleider achtlos auf den Boden, putzt sich die Zähne, zu kurz, wie immer. Es ist spät, und morgen müssen wir früh raus. Ich werde wieder einmal lügen, werde sagen, ich hätte erst zur dritten Stunde, und schließlich bleibe ich einfach im Bett, bis er wiederkommt. Johannes ist im letzten Jahr; wir gehen auf dieselbe Schule, er in die zwölfte und ich in die zehnte Klasse. Als ich noch bei der Mutter und den Großeltern wohnte, musste ich jeden Tag den Berg hinunter in die kleine Stadt laufen – eine dreiviertel Stunde Marsch war das –
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