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Irgendwann werden wir uns alles erzählen

Irgendwann werden wir uns alles erzählen

Titel: Irgendwann werden wir uns alles erzählen
Autoren: Daniela Krien
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fleißig gelernt. Nun kommt der letzte Sommer seiner Schulzeit. Was danach werden wird, weiß noch keiner – es gibt ja jetzt Möglichkeiten.
    Er nimmt mich an den Händen und zieht mich aufs Bett. »Komm!«, sagt er, »es ist heiß hier oben. Zieh dein Kleid aus.« Ich folge ihm widerspruchslos. Das Fenster steht weit offen, draußen zwitschern die Vögel wie trunken vom Sommerglück. Die Spinnen sind nicht zu sehen, erst am Abend kommen sie wieder heraus und weben ihre feinen Fäden. Johannes hält mir den Mund zu, niemand soll uns hören; niemand soll wissen, wie die Liebe klingt.
    *
    Zwei Wochen sind vergangen. Es ist Juli, wir haben jetzt Westgeld. Kein einziger Regen ist gefallen, die erste Heuernte ist getan, Johannes hat ein Zeugnis in der Hand und einen guten Abschluss. Geldgeschenke bekam er von den Eltern, den Großeltern mütterlicherseits und von der Frieda. Von ihr am meisten. Wir beschließen, nach München zu fahren: mein zweites Mal im Westen.
    An das erste Mal erinnere ich mich ungern. Demütigend war mir das Einreihen in die Schlange für das Begrüßungsgeld gewesen, erniedrigend die Blicke eines Obst- und Gemüsehändlers, als ich ihn fragte, wie diese und jene Frucht hieße und wie man sie essen müsse. Vorher standen wir Stunden am Grenzübergang und froren; es hatte ersten Schnee gegeben – frühen Schnee –, und wir waren nicht vorbereitet auf Hunderte von Autos, die alle die Grenze passieren wollten. Wir warteten viele Stunden in dem eiskalten Auto, nur um uns dieses Geld zu holen und endlich den Westen leibhaftig gesehen zu haben. Ich war enttäuscht. Die Erwartung, die mein ganzes Leben Zeit gehabt hatte, sich aufzubauen, hielt der Wirklichkeit eines schneeregenkalten Novembertages nicht stand. Das einzige Geschäft, das ich betrat, war dieser Obstladen, dessen Besitzer uns kalt musterte. Es war uns ins Gesicht geschrieben, woher wir kamen.
    Nun das zweite Mal, im Sommer. Der alte Wartburg stöhnt unter der Anstrengung der ungewohnt langen Strecke; die Straßen jedoch werden hinter der Grenze schlagartig besser. An der Grenzstation zeigten wir unsere Personalausweise und wurden durchgewunken. Das ist unfassbar, noch immer. Wir fuhren einfach weiter.
    Auf der Autobahn überholen uns sogar die großen LKWs. Wir rauchen bei geöffneten Fenstern und fühlen uns göttlich. Nach fast sechs Stunden Fahrt erreichen wir München. Ich habe kein Geld, und wenn ich welches hätte, wüsste ich nicht, was ich kaufen sollte. Es gibt alles, und ich könnte mich unmöglich für irgendetwas entscheiden. Johannes aber hat einen Plan. Wir gehen ein Stück, treiben mit den anderen an Geschäften vorbei und hinein, wieder heraus und weiter, er hält meine Hand zu fest, ich mache mich los und schaue, schaue, schaue. Der Westen hat einen anderen Klang und einen anderen Geruch.
    In einem Straßencafé werde ich von ihm zurückgelassen, während er »etwas besorgen geht«. Vorher jedoch gibt Johannes mit unerhörter Selbstverständlichkeit eine Bestellung auf. Ich frage mich, was er hier zu besorgen hat. Aber eigentlich kümmert es mich nicht. Hier zu sitzen und zu schauen und einen Milchkaffee zu trinken und dazu ein sagenhaft gutes Stück Kuchen zu essen ist ohnehin mehr, als ich verkraften kann. Ich starre die Menschen an. Es ist so anders hier, es ist so selbstbewusst, so siegesgewiss, so unsagbar. Mein Kaffee ist ausgetrunken, ich bestelle gleich einen neuen und dazu noch ein Glas Wein. In meinen Händen halte ich ein kleines Notizbuch. Ich hatte mir fest vorgenommen, alles aufzuschreiben, was ich sehe und noch nicht kenne, wonach ich mich manchmal gesehnt habe. Und nun sehe ich, ich kenne nichts von alledem, ich müsste alles aufschreiben, angefangen vom Geruch der Läden über die Sauberkeit der Straßen, die hellen Fassaden der Häuser und die Mode der Mädchen und den herrlichen Kaffee, über die Schönheit der Frauen, ihre rasierten Beine und Achseln, ihre glatte, weiche Haut, die flirtenden Blicke der Männer, die türkisfarbene Isar, die Leichtigkeit. Und immer wieder diese Farben! Ich schreibe nichts, und plötzlich wird mir schwer zumute. Johannes soll jetzt kommen, mich abholen, mich nach Hause bringen. Jetzt gleich. Der Umschwung meiner Begeisterung zu einer echten Verzweiflung vollzieht sich sekundenschnell. Ich fühle mich arm, hässlich, allein. Auch ich trage ein schönes Kleid, aber etwas ist an mir, und ich weiß nicht, was es ist, doch es ist anders, mehr kann ich nicht darüber sagen. Nun
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