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Irgendwann werden wir uns alles erzählen

Irgendwann werden wir uns alles erzählen

Titel: Irgendwann werden wir uns alles erzählen
Autoren: Daniela Krien
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keine Aussicht auf neue. Ich weiß noch nicht, wie es weitergehen wird. Irgendwie geht es natürlich immer weiter, aber ich weiß eben noch nicht, wovon wir leben werden.« Sie nestelt an ihren Fingernägeln herum. »Na ja …«, fährt sie fort, »ein bisschen Geld habe ich ja noch – von dem Hausverkauf. Aber dein Vater zahlt keinen Unterhalt für dich, und ehrlich gesagt, wäre es mir das Liebste, du würdest einen Beruf lernen. Und auf dem Brendel-Hof zu bleiben ist eine Schnapsidee, oder etwa nicht?«
    Wir stehen uns gegenüber. Sie sieht mich nicht an. Ihre Füße sind nackt, sie tut mir leid; ich möchte etwas antworten, ich möchte ihr eine Lösung bieten, ich fühle mich sogar verpflichtet, einen Plan zu haben, schließlich bin ich ausgezogen, mit sechzehn! Man zieht nicht einfach von zu Hause aus mit sechzehn, wenn man keine Idee hat, was man dann tun soll, aber ich habe nun einmal keine Idee. Ganz leer fühle ich mich.
    Jetzt sieht sie mich an, mit diesem besonderen Blick, der fragt: Vielleicht hast du auch für mich eine Idee, was soll ich tun? Sag’s mir, Maria!
    Aber ich habe doch nicht einmal eine für mich selbst, Mutter, begreifst du das nicht?
    Es ist jetzt wie immer: Es gibt keine Entscheidung, außer ich treffe sie selbst.
    Eine solche Leere –
    Ich gehe ins Haus, steige die Treppen hinauf in mein Zimmer unter dem Dach, dieses uralte Zimmer mit Schränken aus dem vorigen Jahrhundert und einem wohl ebenso alten Bett mit durchgelegenen dreiteiligen Matratzen, über dem die große Kopie eines symbolistischen Gemäldes hängt. Es heißt Nymphen und Saturn , und ich habe mich endlos oft dort hineingeträumt. Die Nymphe in der Mitte, jene, deren Gesicht am deutlichsten zu erkennen ist und die ein blaues Haarband trägt, soll meiner Mutter ähneln, als sie ein junges Mädchen war. Sie hat es von ihrem Vater bekommen; es passt zu ihr.
    Mein Schreibtisch unter dem Giebelfenster ist unter Bergen von Büchern und Zetteln nicht mehr zu erkennen. Ich krame hastig ein paar Dinge hervor, Stifte, Block, ein paar ältere Passbilder, ein Buch; ich reiße Kleider aus dem Schrank und werfe alles in einen Koffer. Ich werde eine Arbeit finden müssen, denke ich, ich habe doch gar kein Geld.
    Dann lasse ich den Koffer liegen, er ist zu schwer für den langen Weg. Ich renne die Treppen hinunter, vorbei an den zwei kleinen Zimmern meiner Mutter und der kleinen Stube von der Milda, der Urgroßmutter, die ihre Tage damit verbringt, Essensreste in kleine Plastiktüten zu packen und in den Schränken zu verstecken, wo sie dann in Ruhe vor sich hin schimmeln, vorbei auch an der Wohnung der Großeltern im Untergeschoss, durch die Hintertür in den Garten, wo meine Mutter noch immer regungslos unter dem Apfelbaum steht. Ich umarme sie flüchtig und heftig und verspreche, bald wiederzukommen. Dann raus auf die Gasse, raus aus dem Dorf, weg, weg, weg, nur weg. Erst als das Dorf nicht mehr zu sehen ist, werde ich ruhiger.
    Auf dem Rückweg gehe ich querfeldein durch den Mais. Die jungen Pflänzchen reichen mir gerade bis an die Knie, bis zur Erntezeit sind es noch weit über zwei Monate. Ich gehe diesen Weg selten, er führt vorbei am Hof vom Henner, vorbei also an den Doggen und den wilden Pferden, die nur der Henner reiten kann. An guten Tagen prescht er im Galopp über die Wiesen, die Hunde neben ihm her. Dann sieht er aus wie ein Gutsbesitzer aus einer anderen Zeit. Er ist so ein Typus, kein Neuzeitmensch, einer von denen, die in die falsche Zeit geboren zu sein scheinen. Marianne sagt, es ginge ihm besser, er habe das Trinken wohl aufgegeben. Niemand glaubt das ernsthaft, aber letztens im Laden war er wirklich stocknüchtern.
    Der Mais kitzelt meine Beine; mein Kleid bleibt an den Blättern hängen. Ich lasse meine Hände darübergleiten, die ganz fühllos sind nach dem Besuch bei der Mutter.
    Den Henner sehe ich schon von Weitem. Er steht auf der Pferdekoppel, trägt abgewetzte Reitstiefel, eine enge braune Hose und ein ursprünglich weißes, doch jetzt sehr schmutziges Hemd. Die Doggen liegen träge im Schatten eines Apfelbaums. Letztes Jahr, so sagte es die Marianne, haben sie sogar eines seiner Fohlen gerissen. Da hat er sie mit dem Stock verprügelt, bis sie heulten.
    Ich gehe langsam und denke an die Mutter; sie hat so traurig ausgesehen. Was soll aus ihr werden ohne den Vater, ohne Arbeit, bei den Schwiegereltern im Haus? Es ist ihre Traurigkeit, die mich aus dem Haus getrieben hat. Die saugt mir die Kraft aus dem
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