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Irgendwann werden wir uns alles erzählen

Irgendwann werden wir uns alles erzählen

Titel: Irgendwann werden wir uns alles erzählen
Autoren: Daniela Krien
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sehe ich die Hunde. Sie sitzen beide im Gras neben der Schiene. Vor ihnen liegt etwas Zugedecktes. Es ist nicht groß, so wie ich es erkennen kann. Etwas Dunkles, eine Decke oder Plane. Ich bin mir nicht sicher.
    Ich ziehe mich still an, steige leise, ganz leise die Treppen hinunter, gehe durch den Durchgang im Stall hinüber zur Schiene, und während ich gehe, weiß ich es schon.
    Von Weitem kommt mir der Lindenwirt entgegen. Er sagt: »Geh nicht weiter, Maria! Das willst du nicht sehen …« Ich laufe an ihm vorüber, ohne ihn anzublicken.
    Er hat die Hunde gehört, sehr früh am Morgen wurde er von ihnen geweckt. Die Gabi sagte, er solle weiterschlafen und sich nicht darum kümmern, doch er ist aufgestanden und hinübergelaufen. Die Doggen saßen vor dem Kopf ihres Herrn und bellten. Seinen Körper hat der Zug noch ein ganzes Stück mitgeschleift. Der Zugführer saß noch immer in der Lok. Er hatte einen schweren Schock. Der Lindenwirt rannte schreiend nach Hause und verständigte die Polizei. Mächtig stolz ist er nun, dass gerade er ihn gefunden hat. Das kann er noch viele Jahre immer wieder neu erzählen. Eine solche Geschichte ist etwas ganz Besonderes.
    Keiner weiß, was passiert ist. Er hatte getrunken, der Henner, so viel steht fest. Warum er über die Schienen gelaufen ist um diese Zeit, kurz vor dem Morgengrauen, bleibt ein Rätsel. Der Kopf lag auf seiner Seite der Wiesen. Innerhalb weniger Sekunden erfasst eine Taubheit meinen ganzen Körper. Sie beginnt im Kopf und strahlt bis in die Fußspitzen. Dennoch bewege ich mich.
    Ich gehe weiter zum Haus. Zu unserem Haus. Ein Fenster steht offen, ich klettere hinein. Drinnen steht noch das Glas von gestern, das Glas mit dem Wodka. Die Flasche daneben ist leer. Auch ein geöffnetes Marmeladenglas steht dort, eine von meinen selbst gemachten. Ich stecke den Finger hinein und lecke ihn ab. Dann gehe ich wie von fremder Hand geleitet durch alle Zimmer, die wir bewohnt haben, in denen wir uns geliebt haben. Aus dem Zimmer der Mutter nehme ich zwei Bücher mit. Ich hätte gerne alle mitgenommen. Ein paar Sachen packe ich ordentlich in eine Tasche, die neben dem Kleiderschrank steht. Ein ungewaschenes Hemd von ihm, das leere Glas von gestern, das Handtuch neben dem Küchenwaschbecken, die Bücher und den Kerzenständer vom Tisch.
    Ich laufe zur Mutter, ich fühle gar nichts, ich laufe einfach.
    Sie schläft noch, als ich komme. Ich stelle die Tasche neben ihr Bett und lege mich neben sie. Alles Weitere erzählt sie mir später. Wie sie erwachte und mich sah, wie sie mich fragte, was los sei, und ich anfing zu weinen, nicht mehr aufhörte damit und immer mehr geschüttelt wurde von den Wellen des Schmerzes, wie ich mich auf den Boden geworfen und den Kopf auf die Dielen geschlagen habe und anfing zu schreien. Ein solches Schreien habe sie noch nicht gehört, sagt sie. Wie sie dann den Arzt gerufen hat und ich ins Krankenhaus gekommen bin. Ein Nervenzusammenbruch, sagten sie ihr dort.
    Dann verlegten sie mich in die Jugendpsychiatrie, und da blieb ich mehrere Wochen.
    Den Abend der Wiedervereinigungsfeier habe ich unter der Wirkung der Beruhigungsmittel verschlafen.
    *
    Einige Zeit später, nachdem ich meiner Mutter und nur ihr die Wahrheit erzählt habe, kehre ich zu den Brendels zurück. Sie erfahren das Nötigste: Ich hatte einen Nervenzusammenbruch, dessen Ursache nicht endgültig erklärt werden konnte. Eine labile Persönlichkeit, der Wegzug der Mutter, der fehlende Vater, die Wiederholung der Klasse, alles in allem die übersteigerten Gefühle einer Siebzehnjährigen in den Wirrungen einer unruhigen Zeit.
    Im kommenden Herbst werde ich den Brendel-Hof verlassen und mit dem Johannes nach Leipzig gehen. Ich weiß noch nicht, was ich dort tun werde, aber es wird sich etwas für mich finden.
    Ich denke oft an die Worte Alexejs, des jüngsten der Brüder Karamasow, und wie er sagte, irgendwann würden wir alle auferstehen und uns wiedersehen und alles erzählen.
    Wirklich alles.

    ***
    www.boox.to

Aus folgenden Büchern wurde zitiert:
    Dostojewskij, Fjodor M.: Die Brüder Karamasow . Aus dem Russischen von Swetlana Geier, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2006.
    Die Dostojewskij-Zitate entnahm ich dieser Neuübersetzung, weil sie mir treffender und akkurater erscheint als die vorangegangen Übersetzungen. Sie existierte im Jahr 1990 – in jenem Jahr also, in welchem sich die fiktive Handlung meines Buchs zuträgt – natürlich noch nicht.
    Zitate auf
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