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Irgendwann werden wir uns alles erzählen

Irgendwann werden wir uns alles erzählen

Titel: Irgendwann werden wir uns alles erzählen
Autoren: Daniela Krien
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und klopft ihm auf die Schulter. Er lacht wieder und steckt sich ein großes Stück Wurst in den Mund.
    So habe ich ihn noch nie erlebt, den Siegfried. Richtig euphorisch ist er. Und wie er das eben so erzählte, würde es keinen von uns wundernehmen, wenn alles genauso käme.
    Der Hühnerbestand ist jetzt schon größer als vor dem Fuchsmassaker. Siegfried schuftet wie ein Ochse. Er verliert keine Zeit. Selbst Johannes und Lukas müssen ordentlich mit anpacken. Marianne schwätzt jetzt nur noch selten mit den Dorffrauen. Sie hat ein Schmuckstück aus dem Laden gemacht. Auch Alfred muss seine träge Arbeitsweise aufgeben; das hält ihn auch gleich vom Trinken ab.
    Ich bin ein vollwertiges Mitglied der Familie geworden. Zur Gestaltung des Ladens habe ich einiges beigetragen, habe Wände gemalert, kleine Schilder beschriftet und Platz geschaffen für die zukünftigen Erzeugnisse des Hofs. Die Frieda wird bald das Brot vom eigenen Mehl backen, und sie bäckt herrlich. Dem Joghurt könnte man Vanille hinzufügen oder andere Zutaten – das war meine Idee. Wir alle sind von Siegfrieds Eifer angesteckt worden.
    Vor dem Laden stehen jetzt links und rechts Blumenkübel und eine Tafel mit dem Angebot des Tages. In einem Jahr oder spätestens in zweien wird der Laden aus allen Nähten platzen, bei dem, was der Siegfried vorhat. Aber er denkt schon an Belieferung. Er denkt überhaupt sehr weit voraus. Dem Johannes und mir ist das ein bisschen unheimlich. Wir wissen doch noch gar nicht, was aus uns wird und wo wir sein werden in einem Jahr.
    Johannes fotografiert vorsichtshalber schon mal alles und sagt, man müsse Werbung machen in der Stadt.
    Es ist so eine Stimmung hier auf dem Hof, die macht mich ganz aufgeregt.
    Es herrscht ein geschäftigeres Treiben als noch vor ein paar Monaten. Zudem ist Erntezeit; Äpfel, Birnen, Pflaumen und Holunderbeeren müssen gepflückt und verarbeitet werden. Ich habe mir den Holunder vorgenommen. Die großen Dolden tragen reiche Früchte, und ich mache Saft, Gelee und Marmelade daraus. Später verkaufen wir es im Laden. Marianne ist mir schrecklich dankbar dafür, es ist nämlich eine Heidenarbeit. Doch ich habe die Möglichkeit entdeckt, das Beerenlesen mit dem Bücherlesen zu verbinden. So ist mir gar nicht langweilig dabei.
    Beim Henner mache ich das Gleiche. Wir tragen eimerweise die Früchte ins Haus. In den letzten Jahren hatte das immer die Gabi vom Lindenwirt übernommen. Der Henner hätte einfach alles verrotten lassen. Einiges lagere ich im Keller ein, außerdem koche ich eine ganze Menge Mus und Marmelade. Er hat einige Zutaten aus dem Westen besorgt, die ich ihm aufgetragen hatte zu kaufen. Vanille, Zimt, Ingwer und einiges mehr. Alles von der Gisela gehört. In der Küche riecht es so wunderbar, dass er immer wieder hinausgeht, nur um wieder hereinkommen zu können. Ich koche uns eine Suppe aus Holunderbeeren und Äpfeln mit einer Prise Zimt und viel Zucker. Meine Hände sind ganz schwarz von den Beeren, und einmal wundert sich der Johannes darüber und sagt: »Es ist doch schon mindestens drei Tage her, dass du den Holunder gekocht hast, aber deine Finger sind immer noch schwarz«, und ich antworte ganz ungerührt: »Ist eben ziemlich hartnäckig, diese Holunderfarbe.«
    *
    Auch bei der Mutter gibt es Neuigkeiten. Als ich an einem Samstagvormittag zu ihr gehe, sitzt sie am Tisch und isst Pflaumen. Sie sieht frisch aus, nicht mehr so mager, und auch ihr Gesicht hat einen anderen Ausdruck. Sie streicht ihre Haare zurück und sagt mit einem fremden Ton in der Stimme, sie wolle mir etwas erzählen. Sie hält eine Pflaume in der Hand und dreht sie hin und her, und schließlich sagt sie, sie wolle umziehen, zurück in ihre Heimat. Ich antworte nichts, doch ich spüre, wie das Blut in meinen Kopf steigt und pulsiert.
    Sie fährt fort und erklärt mir in umständlichen Worten und mit Tränen in den Augen, sie wüsste nun endlich, dass sie hier nicht hergehöre und niemals hergehören werde. Zu Hause, so sagt sie es, zu Hause gäbe es sogar eine Arbeit für sie. Sie habe ihrem Bruder geschrieben, der ja noch immer dort lebt, und er habe auch geantwortet. Ein neues Hotel werde dort nächstes Jahr eröffnet, es sei noch im Bau, aber sie würden eine Menge Leute brauchen, auch in der Buchhaltung, und es gingen dort gerade so viele weg. Sie sieht glücklich aus, als sie das erzählt, obwohl sie weint. Dann fragt sie mich, ob ich mitgehen möchte, und ich kann sie nicht anschauen, als ich ihr
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