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Irgendwann werden wir uns alles erzählen

Irgendwann werden wir uns alles erzählen

Titel: Irgendwann werden wir uns alles erzählen
Autoren: Daniela Krien
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Bilder. Das ist sein Projekt. Er will sie gegenüberstellen, die Toten und die Lebenden. Ich verstehe jetzt die Geheimniskrämerei, ich glaube, die Frieda fände es morbide, und auch die Marianne hätte sicher Einwände. Ich habe keine Meinung dazu. Nicht mehr. Ich hoffe, sie nehmen ihn an der Schule. Dann kann er weggehen und mich vergessen.
    »Johannes«, sage ich, »ich muss mit dir reden.«
    Er dreht sich um und zeigt mir ein Bild. Zwei alte Frauen sind darauf zu sehen. Zwillinge. Sie wohnen drüben im Dorf in einem kleinen alten Haus gleich neben dem Konsum. »Sieh mal«, sagt er, »Hedwig und Heidrun Ott, von drüben aus dem Dorf. Und hier …«, er hält ein anderes Bild hoch, »Eberhard Ott, gestorben mit sieben Jahren an einer Lungenentzündung. War im Eis eingebrochen, im Winter. Und jetzt stell dir vor: Das Bett, auf dem er hier liegt, in dem er gestorben ist, steht noch immer in dem Haus, auf dem Dachboden.« Er zieht ein weiteres Bild aus einem Stapel. »Hier ist es. Das ist großartig, Maria. Damit werden sie mich nehmen.« Er sagt jetzt solche Wörter wie großartig, unglaublich oder subtil. Der Marianne ist das auch schon aufgefallen, und sie meint, das komme von den Künstlern aus der Stadt. Die würden auch so kompliziert daherschwätzen.
    Ich versuche es erneut: »Johannes, ich muss wirklich einmal mit dir reden.«
    Er sortiert unentwegt Bilder hin und her und will mir schon das nächste zeigen, doch nun hat er mich wohl gehört und sagt: »Lass mich das hier noch fertig machen, wir reden am Abend, ich bin gerade so gut drin, ich hab so viele Ideen, Maria, ich glaube wirklich, die werden mich nehmen.«
    Ich verlasse ihn wieder und gehe runter in die Küche. Dort steht die Frieda und bäckt Kuchen. Morgen wird der Hartmut kommen, da gibt es viel zu tun. Eine merkwürdige Ruhe kommt über mich; jede Einzelheit in dem vertrauten Raum drängt sich in mein Bewusstsein – die verwelkten Blumen auf dem Tisch, eine Schale mit Obst, kleine Fliegen darüber, der Schweiß unter den Achseln der Frieda, Mehlstaub auf ihrem Haar, ein feiner Riss in der Schüssel mit dem Teig, die Maserung der Dielen auf dem Boden, das Summen des Kühlschranks, der Geruch nach Stall, Hefe und Frieda. Ich binde mir eine Schürze um und helfe ihr beim Backen. Bald werde ich das allein tun, drüben beim Henner. Ich werde seine Frau sein, mit allem was dazugehört.
    Am Abendbrottisch sitzen wir alle noch einmal beisammen. Es sind gute Leute, die Brendels, morgen aber werde ich nicht mehr bei ihnen sein. Der Siegfried isst wie ein Scheunendrescher, er arbeitet wirklich hart. Marianne freut sich auf die Feier am Mittwoch, sie hat sich extra ein neues Kleid gekauft; neben der Gisela will sie nicht blass aussehen. Johannes ist gar nicht hier. Er sitzt mit uns am Tisch, aber seine Gedanken sind bei den Bildern. Alfred beachtet mich nicht, er schmatzt und schlürft wie immer, doch das stört mich nicht mehr. In jedem Kopf geht etwas anderes vor. Ich sehe sie mir alle genau an. Nie mehr werden wir so sein wie heute. Morgen schon wird alles anders sein, für mich, für sie.
    Ich frage mich, ob sie mir je verzeihen werden. Ich glaube es nicht. Sie werden kurz und aufgebracht darüber sprechen, werden mich schändlich finden und undankbar, unmoralisch und egoistisch, und dann werden sie schweigen, wie sie es immer getan haben. Sie werden meinen Namen nicht mehr nennen, so wie der Name vom Hartmut viele Jahre nicht mehr genannt wurde und der Name von Volkers Vater immer Heinrich sein wird, obwohl es doch der Alfred ist, da bin ich mir längst sicher.
    Ja, sie werden wohl schweigen. Aber verzeihen werden sie mir nicht.
    Nach dem Essen verschwindet Johannes gleich wieder in seiner Kammer. Ich warte lang auf ihn, und spät in der Nacht beschließe ich, dass die Wahrheit bis zum Morgen warten kann –
    *
    In der frühen Dämmerung, in der Phase zwischen Schlaf und Wachen, höre ich die Sirenen. Von weit her tönen sie heulend; sie erreichen mich in einem wirren Traum. Ich stehe wankend auf und öffne die dunkelroten Gardinen vor dem Giebelfenster. Traumbilder blitzen ein letztes Mal auf, dann verblassen sie und vergehen. Vor mir liegen die Weiden mit den Schafen, weit hinten links der Wald und gegenüber der Henner-Hof. Dazwischen verlaufen die Bahnschienen.
    Ein Zug steht dort. An den Schienen verläuft ein Weg. Dort sind jetzt mehrere Autos zu sehen, Polizei, Krankenwagen und ein Zivilfahrzeug. Menschen gehen geschäftig umher, und plötzlich
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