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Irgendwann werden wir uns alles erzählen

Irgendwann werden wir uns alles erzählen

Titel: Irgendwann werden wir uns alles erzählen
Autoren: Daniela Krien
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ich zu ihr hinüber und renne über die Wiesen Richtung Haus.
    Als ich wiederkomme, kreischen die Maschinen im Sägewerk. Wir Frauen sind nun allein auf den Wiesen. Das heißt, nicht ganz unter uns, Alfred ist noch da, aber der zählt nicht. Das einzig Eigenständige am Alfred ist seine Trinkerei, die ebenso schweigend hingenommen wird wie fast alles hier. Sonst ist er Friedas Untertan; das ist er schon seit jener Zeit, als Frieda ihn kreuz und quer über den Hof schleppte und ihre kindlich-plumpe Fürsorge dem Säugling der Magd angedeihen ließ. Nun ist es längst zu spät für eine Geste der Emanzipation. Ohne eigene Frau und Kinder ist der Alfred ein Anhängsel der Familie geworden, die ihn beinahe wie einen eigenen Sohn behandelte. Er war ja der einzige Junge nach dem Tod der beiden Schenke-Buben, und eine gewisse Hoffnung veranlasste seine leiblichen Eltern dazu, den Sohn mehr und mehr der Obhut von Ingeborg und Wieland Schenke, Friedas Eltern, zu überlassen. Frieda liebte den kleinen Alfred über alle Maßen, und wer weiß, dachten sie wohl, vielleicht würde sie ihn auch später noch lieben, wenn die Zeit käme, zu heiraten und den Hof zu übernehmen. Tatsächlich wird noch immer gemunkelt, Volker, Friedas Ältester, sei Alfreds Sohn. Trinken tut er jedenfalls auch. Aber geheiratet hat sie dann den Brendel-Sohn, den Heinrich, einen kräftigen und tüchtigen Spross der Familie des Dorflehrers. Auch er spielte schon als kleiner Junge häufig auf dem Hof, auch ihn bemutterte die kleine Frieda mit unbarmherziger Leidenschaft, die später, als Frieda knapp siebzehn war, in aufopferungsvolle Liebe umschlug. Und später wurde der Schenke-Hof in Brendel-Hof umbenannt.
    Kurz nach der Hochzeit mit Heinrich, im Jahre 1948, kam Friedas erster Sohn Volker zur Welt. Einige Wochen vor der Geburt verschwand der Alfred plötzlich – ein Hinweis auf eine mögliche Vaterschaft des Ausreißers? Frieda bestritt dies aufs Heftigste, und so wurde der Mantel des Schweigens über die unliebsame Vermutung gelegt. Einige Zeit später tauchte er wieder auf, der Alfred, abgerissen und dünn – ein geschlagener Hund. Seine Mutter brach bei seinem Anblick vor dem Herd zusammen.
    Marianne lässt sich plötzlich in einen Heuhaufen fallen. Ihr rotes Kopftuch ist nach hinten gerutscht und gibt den Blick frei auf ihr dichtes Haar. Jung sieht sie aus, wie sie dort liegt, mit vom frischen Wasser benetzten Lippen, ihrem hochgerutschten Rock und den starken Beinen darunter. Neununddreißig Jahre ist sie alt, die Söhne achtzehn und zwölf. »Mutti«, sagt Johannes, »dein Rock …« Sie lacht und nimmt noch einen kräftigen Schluck aus der Flasche. Dann steht sie wieder auf und sieht zum Sägewerk hinüber. »Ich bin gleich wieder da«, ruft sie uns im Gehen zu, »es dauert nicht lang.« Johannes lässt sich neben mir nieder und legt den Kopf in meinen Schoß. Mit einer Handvoll Wasser wasche ich ihm den Staub vom Gesicht und lege ihm meine gekühlten Hände auf die Augen. Von links spüre ich einen Blick – der Lukas beobachtet uns. Nur Frieda schaut auf den Fluss; mit wie in der Erde verwurzelten Füßen steht sie breitbeinig auf den Rechen gestützt und schaut. Auch wir sehen dorthin, können aber nichts Besonderes erkennen – nur das Wasser, das fließt, wie jeden Tag. Im Sägewerk drüben sind die Maschinen verstummt.
    Es ist schon nach zehn, als wir schließlich am Esstisch sitzen. Auf einer großen Porzellanplatte ist kalter Braten angerichtet und schon in dünne Scheiben geschnitten. Daneben stehen ein Korb mit dunklem Brot, Butter in einem Keramikfässchen, eine Flasche Wein und ein Zitronenkuchen. Ich esse, als hätte ich tagelang gehungert, sogar ein Stück Fleisch. Das bringt mir ein anerkennendes Nicken vom Siegfried ein. Er meint, wir müssten ein paar Helfer für die Heuernte holen, der Volker könnte sich ja auch mal wieder blicken lassen. Aber der Volker sei nun einmal nicht da, entgegnet die Frieda, und ihre Stimme hat einen gereizten Klang. Die Brüder vom Siegfried sind die Lindenblattstelle in Friedas Leben. Volker, der Älteste, ist mit sechzehn zur LPG gegangen, in den Schweinestall. Dort fing er mit einigen anderen das Trinken an. Heute lebt er in einer kleinen Wohnung in der Kreisstadt, und obwohl er gerade einmal zweiundvierzig Jahre alt ist, arbeitet er nicht mehr. Eine Frau hat er nicht, auch keine Kinder. Das alles klingt so sehr nach dem Alfred, dass wir alle betreten schweigen, wenn die Rede auf den Volker kommt.
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